Aktuell sind Arbeitgeber und Öffentlichkeit wieder von Streiks oder zumindest deren Ankündigung betroffen. In Berlin streiken die Lehrer, und ein Höhepunkt dürfte zuletzt der im März von den Gewerkschaften ver.di und EVG gemeinsam durchgeführte bundesweite Warnstreik gewesen sein. Aber wer darf eigentlich streiken und für was wird gekämpft?
„Wilde“ Streiks, wie vor zwei Jahren bei dem Lieferdienst Gorillas, oder öffentlichkeitswirksame gemeinsame Aktionstage von Gewerkschaften und Aktivist:innen (dazu unser Blogbeitrag Gewerkschaftsarbeit trifft auf Aktivismus) bringen den Arbeitskampf auch auf die Tagesordnung nicht tarifgebundener Arbeitgeber. Hier ein kleines Einmaleins zum Streikrecht.
Rechtlicher Ausgangspunkt
Seinen Ausgangspunkt findet das Arbeitskampfrecht im Grundgesetz in Art. 9 Abs. 3. Der Einzelne hat das Recht, einer Koalition, d.h. einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband beizutreten, darin mitzuwirken, sie zu verlassen oder dem fernzubleiben. Weitere gesetzliche Grundlagen zu diesem brisanten Rechtsgebiet werden vermisst. Die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen gerade von Arbeitskämpfen wurden daher vor allem durch die Rechtsprechung herausgearbeitet und sind stark einzelfallgeprägt.
Elementarer Bestandteil der koalitionsspezifischen Betätigung ist die Tarifautonomie, also die Freiheit zur kollektivvertraglichen Gestaltung. Umfasst von der Tarifautonomie sind nicht nur die Abschlüsse von Tarifverträgen, sondern auch das Recht, zum Zwecke der Verhandlung Arbeitskampfmittel einzusetzen, das sogenannte Arbeitskampfrecht.
Arbeitskampf
Um einen Arbeitskampf handelt es sich bei einer von Arbeitnehmer- oder (selten) von Arbeitgeberseite bewirkten kollektiven Druckausübung durch Störung der Arbeitsbeziehungen, klassisch durch einen Streik (oder Aussperrung). Die Störung der Arbeitsbeziehungen bedeutet auf den ersten Blick eine Pflichtverletzung im Arbeitsverhältnis – man denke an eine streikbedingte mitunter tagelange Arbeitsniederlegung, also bewusste und beharrliche Arbeitsverweigerung. Ein Arbeitskampf muss daher bestimmten rechtlichen Anforderungen genügen, um rechtmäßig zu sein. Nur ein rechtmäßig geführter Arbeitskampf verdient den Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG und schütze Arbeitnehmer vor arbeitsrechtlichen Sanktionen.
Zum Streik aufrufen kann eine tariffähige Partei. Dies sind Gewerkschaften, Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände. Ruft eine Gewerkschaft per Streikbeschluss zum Arbeitskampf auf, müssen der Arbeitskampfgegner, der Beginn, die aufgerufenen Personen, die betroffenen Betriebe/Betriebsteile, die Streikformen und die Streikziele/-forderungen festgelegt sein. Spontane Streikaktionen oder auch der Aufruf einzelner Arbeitnehmer zu einem Streik sind dagegen rechtswidrig (s. hierzu auch unseren Blogbeitrag Wilde Streiks – wie sollte der Arbeitgeber reagieren?.
Ab wann darf gestreikt werden? – Warnstreiks
Zunächst muss der Streik überhaupt erforderlich sein. Das ist dann der Fall, wenn (wenn auch nur symbolisch) Verhandlungen aufgenommen wurden und diese scheiterten oder ohne Aufnahme von Verhandlungen abgelehnt wurden. Vor einem solchen Scheitern sind (Warn-)Streiks daher grundsätzlich nicht zulässig, es kann aber zu Streiks kommen bevor erstmals tatsächlich verhandelt wird. Die Rechtsprechung erkennt an, dass „Warnstreiks“ dann auch verhandlungsbegleitend erfolgen können. Fortlaufende Verhandlungen und Streik schließen sich nicht aus.
Das Ziel müssen zulässige tarifliche Regelungen sein
Der Arbeitskampf darf nur auf die Durchsetzung einer tariflich und mit der Rechtsordnung in Einklang stehenden Regelung gerichtet sein. Politische Streiks „Keine Waffenlieferungen“ oder auch „Mehr Waffenlieferungen“ fallen nicht unter den Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG, weil ein Arbeitgeber keinen Einfluss auf die Erfüllung politischer Forderungen hat. Nach der sogenannten „Rührei-Theorie“ kann bereits ein einzelnes nicht tarifakzessorisches Ziel zur Rechtswidrigkeit eines ganzen Arbeitskampfs führen. Wird mit dem Arbeitskampf zwar der Abschluss eines Tarifvertrags angestrebt, ist aber der geforderte Inhalt des Tarifvertrages rechtswidrig, vermag ein Arbeitgeber allen Forderungen nicht nachzukommen. Insofern kann eine rechtswidrige Forderung für einen Tarifvertrag die Rechtswidrigkeit des jeweiligen Arbeitskampfes nach sich ziehen.
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Ein Arbeitskampfmittel muss verhältnismäßig zur Durchsetzung der gestellten Forderungen sein. Eine Beurteilung, wann das eingesetzte Kampfmittel verhältnismäßig erscheint, wird anhand des Einzelfalls vorgenommen und lässt sich im Zweifel kaum voraussehen. Fest steht: der Arbeitskampf muss ultima-ratio in einem ansonsten nicht lösbaren Interessenkonflikt sein. Verhandlungsbegleitende Streiks sind von der Rechtsprechung bislang aber als grundsätzlich zulässig erachtet worden. Zur Rechtmäßigkeit von Streiks und Zulässigkeit von Kampfmitteln lesen Sie auch unseren Blogbeitrag: Keine Betriebsblockaden bei Streiks.
Friedenspflicht
Ein Arbeitskampf darf die Friedenspflicht nicht verletzen. Jeder wirksam abgeschlossene Tarifvertrag ist ein Friedensvertrag auf Zeit: während seiner sind die Tarifvertragsparteien verpflichtet, jede Kampfmaßnahme zur Änderung des im Tarifvertrag geregelten Inhalts zu unterlassen. Diese Friedenspflicht gilt auch ohne ausdrückliche Vereinbarung der Tarifvertragsparteien. Mit Auslaufen oder Kündigung des Tarifvertrags endet auch die Friedenspflicht. Die Friedenspflicht hindert aber nicht Verhandlungen und gegebenenfalls Streiks zu außerhalb des Regelungsbereichs des Tarifvertrags liegenden Materien. Auslegungsfrage ist dann, ob ein Streitpunkt vom Tarifvertrag erfasst wird, bewusst nicht geregelt wurde oder außerhalb liegt.
Teilnehmer
Personelle Voraussetzung für die Teilnahme an einem Arbeitskampf ist allein die Arbeitnehmereigenschaft. Beamten, Richtern und Soldaten ist das Streikrecht (nach deutschem Verständnis) versagt. Die Gewerkschaftszugehörigkeit ist keine Voraussetzung für die Teilnahme am Arbeitskampf. Allerdings erhalten nur Gewerkschaftsmitglieder Streikgeld von ihrer Gewerkschaft.
Ein Streik muss aber durch tariffähige Parteien, also Gewerkschaften, organisiert sein. Der einzelne Arbeitnehmer oder die Belegschaft eines Betriebes können daher nicht in Streik treten, sonst liegt ein sog. „wilder“ und unzulässiger Streik vor.
Betriebsrat
§ 74 Abs. 2 BetrVG stellt klar: Arbeitskampfmaßnahmen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber sind unzulässig. Kommt es im Betrieb zu Arbeitskampfmaßnahmen zwischen einer Gewerkschaft und dem Arbeitgeber, hat sich der Betriebsrat neutral zu verhalten. Gleichzeitig sind Betriebsräte auch Arbeitnehmer, dürfen gewerkschaftlich aktiv sein und sich in dieser Eigenschaft an Streiks beteiligen (§ 74 Abs. 3 BetrVG).
Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates bleiben während eines Arbeitskampfes bestehen, soweit die jeweiligen Maßnahmen keine Auswirkung auf den Arbeitskampf haben. Kommt es zu einer streikbedingten Entscheidung des Arbeitgebers, etwa der Verlängerung oder Verkürzung der betriebsüblichen Arbeitszeit für arbeitswillige Arbeitnehmer, sind die Beteiligungsrechte des Betriebsrates aber zugunsten der Tarifautonomie eingeschränkt. Solche Maßnahmen kann der Arbeitgeber dann ausnahmsweise ohne Mitbestimmungserfordernis durchführen. Es bestünde andernfalls die Gefahr, dass der Betriebsrat den Arbeitskampf mithilfe seines Mitbestimmungsrechts zuungunsten des Arbeitgebers beeinflusst.
Folgen eines rechtmäßig durchgeführten Streiks für Arbeitgeber
Während eines rechtmäßig durchgeführten Arbeitskampfes sind die Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis suspendiert. Arbeitgeber sind nicht zur Beschäftigung eines streikenden Arbeitnehmers und auch nicht zu dessen Vergütung verpflichtet. Zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sind Arbeitgeber während eines Streiks nur verpflichtet, wenn der Arbeitnehmer allein aufgrund einer Erkrankung nicht arbeitet. War der Beschäftigte schon vor Beginn des Streiks erkrankt und hat sich dem Arbeitskampf nicht ausdrücklich angeschlossen, bleibt der Anspruch auf Entgeltfortzahlung aber erhalten. Die Teilnahme an einem rechtmäßigen Streik stellt kein vertragswidriges Verhalten dar, eine Abmahnung oder Kündigung darf hiermit nicht begründet werden.
Dieser Beitrag entstand unter Mitwirkung unserer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Juliane Großmann.