Die Wichtigkeit des Massenentlassungsverfahrens nach §§ 17 ff. KSchG ist nicht zu unterschätzen. In späteren Kündigungsschutzverfahren sorgt es (sofern einschlägig) häufiger für Schwierigkeiten als die Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG. Dies hat verschiedene Gründe. Zum einen bereiten die strengen Formalitäten des Verfahrens nach §§ 17 ff. KSchG den Arbeitgebern oft Probleme – mehr noch als das Verfahren nach § 102 BetrVG, welches aufgrund seiner Häufigkeit in der Regel besser beherrscht wird. Zum anderen lassen sich fehlerhafte Betriebsratsanhörungen ggf. über den Grundsatz der subjektiven Determinierung oder über die Ergänzung von Gründen im Prozess (insb. auch die Vertiefung der Erwägungen zur sozialen Auswahl) retten. Fehler bei der Massenentlassung führen dagegen sehr häufig zur Unwirksamkeit der Kündigung.
In einer Serie von Beiträgen werden die für die Praxis wesentlichen Hürden des Verfahrens aufgezeigt und Lösungen präsentiert. Der erste Beitrag befasst sich mit den Grundfragen, ob ein Personalabbau anzeigepflichtig ist, und wo die Anzeige einzureichen ist. Schon diese Fragen bereiten in der Praxis oft Probleme.
Welche Personengruppen sind zu berücksichtigen?
Ob eine anzeigepflichtige Massenentlassung vorliegt, bemisst sich anhand der Schwellenwerte des § 17 KSchG. Wie die Erreichung der Schwellenwerte im Detail zu ermitteln ist, wird in der einschlägigen juristischen Fachliteratur eingehend behandelt. Hervorzuheben sind jedoch die folgenden Besonderheiten, die immer wieder übersehen werden:
- Für die Betriebsgröße sind die in der Regel (!) beschäftigten Arbeitnehmer maßgeblich. Diese Zahl kann höher oder niedriger sein als die Zahl der im Zeitpunkt der Entlassung tatsächlich beschäftigten Arbeitnehmer.
- Es gilt der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff. Berücksichtigt werden z.B. auch Praktikanten.
- Auch Geschäftsführer zählen lt. EuGH v. 9.7.2015 (Rs. C-229/14) dazu; wie sich diese Entscheidung zu der eindeutigen gegenläufigen Regelung des § 17 Abs. 5 KSchG verhält, wird jedoch in der juristischen Literatur unterschiedlich beurteilt.
- Oft vergessen werden bei der Prüfung des § 17 Abs. 1 KSchG die Leiharbeitnehmer. Ein Abbau von Leiharbeitskräften wird zwar ganz überwiegend nicht als Entlassung i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG bewertet, weil die Betroffenen nicht auf den Arbeitsmarkt gelangen. Für die Berücksichtigung bei der Betriebsgröße werden Leiharbeitnehmer aber nach weit verbreiteter Meinung hinzugezählt. Der Arbeitgeber sollte vorsorglich die Berechnung einmal mit und einmal ohne Leiharbeitnehmer vornehmen. Führt eine der Varianten zur Überschreitung des Schwellenwertes (z.B. bei 18 eigenen Mitarbeitern und fünf regelmäßig beschäftigten Leiharbeitnehmern), sollte er das Verfahren nach § 17 KSchG durchführen.
Was zählt als Betrieb?
Die Überschreitung der Schwellenwerte ist für jeden Betrieb gesondert zu ermitteln. Auch dies bereitet in der Praxis gelegentlich Probleme:
Bsp.: Der Arbeitgeber unterhält zwei einige Kilometer voneinander entfernte Betriebsstätten mit unterschiedlichen Tätigkeitsschwerpunkten. Es existieren eine einheitliche Leitung und ein gemeinsamer Betriebsrat.
Nach weit verbreiteter Auffassung soll für den Begriff des § 17 Abs. 1 KSchG der Betriebsbegriff des BetrVG maßgeblich sein (grundlegend BAG v. 13.4.2000 – 2 AZR 215/99). Tatsächlich sollte der Arbeitgeber von diesem Begriff als Ausgangspunkt der Betrachtung ausgehen. Eine unreflektierte Heranziehung verbietet sich aber, da der Betriebsbegriff unionsrechtskonform auszulegen ist (EuGH v. 30.4.2015 – Rs. C-80/14). Nach dem EuGH ist z.B. eine eigenständige Einheit selbst dann ein Betrieb, wenn sie über keine signifikante Autonomie rechtlicher, wirtschaftlicher oder verwaltungstechnischer Art verfügt. In dem vorgenannten Beispiel könnte z.B. nach Maßgabe der §§ 1, 4 BetrVG je nach den Umständen des Einzelfalls ein einheitlicher Betrieb im Sinne des BetrVG vorliegen, während die Kriterien des EuGH zur Annahme zweier separater Betriebe i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG führen (in diese Richtung auch die fachliche Weisung der BfA zum 3. und 4. Abschnitt des KSchG, Ziffer 17.4). Insoweit ist also Vorsicht geboten.
Welche Agentur ist örtlich zuständig?
Richtiger Adressat der Anzeige ist die Agentur für Arbeit, in deren Bezirk der von den Massenentlassungen betroffene Betrieb liegt. Die Zuständigkeit der Agenturen ergibt sich aus den Festlegungen des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit. Nicht maßgebend ist der Sitz des Unternehmens.
Da an den Betriebsbegriff angeknüpft wird, ist bei räumlich getrennten Betriebsstätten wiederum sorgfältig zu prüfen. Denn die Anzeige ist nicht wirksam eingereicht, wenn sie bei der örtlich unzuständigen Agentur für Arbeit eingeht. Liegen die zwei Betriebsstätten in dem o.g. Beispiel in den Zuständigkeitsbezirken verschiedener Agenturen, sollte die Anzeige bei beiden Agenturen eingereicht werden. Weist der Arbeitgeber die betroffenen Agenturen auf dieses Vorgehen hin, ist die Anzeige mit Eingang bei den Agenturen wirksam eingereicht (BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16). Dann ist es Sache der Behörden, sich über die örtliche Zuständigkeit für die Entscheidung nach §§ 18, 20 KSchG abzustimmen.
Zusammenfassung – Hinweis für die Praxis
Trotz sorgfältiger Prüfung wird sich nicht in allen Fällen zweifelsfrei ermitteln lassen, ob, wo und für welche Arbeitnehmer die Anzeige zu erstatten ist. In sämtlichen Zweifelsfällen kann die Schlussfolgerung nur lauten, vorsorglich eine Anzeige (bzw. bei ungeklärter Zuständigkeit mehrere Anzeigen) zu erstatten. Dies gilt selbst dann, wenn nur wenige Indizien auf eine Anzeigepflicht hindeuten. Denn nichts vermeidet unnötige Diskussion im Kündigungsschutzprozess so effektiv wie ein sog. Negativattest der zuständigen Agentur für Arbeit, wonach ein angezeigter Personalabbau nach Auffassung der Behörde nicht gemäß §§ 17 ff. KSchG anzeigepflichtig ist.