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Fehler bei der Massenentlassungsanzeige – nun soll der EuGH helfen

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Kurz vor Weihnachten zeichnete sich im vergangenen Jahr noch eine beachtenswerte Rechtsprechungsänderung des BAG zur Massenentlassungsanzeige ab. Der 6. Senat kündigte an, von der bisherigen Rechtsprechungspraxis des BAG abweichen zu wollen, wonach Fehler bei der Massenentlassungsanzeige automatisch zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen führen. Wir berichteten hierzu in unserem Blogbeitrag vom 22. Dezember 2023. Nun geht es in nächste Runde – allerdings zunächst vor dem EuGH.

Ausgangslage – Neue Rechtsauffassung des 6. Senats

Bislang galt: Sind die Schwellenwerte des § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) zur Anzeigepflicht von Entlassungen gegenüber der Agentur für Arbeit erreicht (z.B. weil ein Arbeitgeber in einem Betrieb mit mehr als 20 Arbeitnehmern mehr als fünf Arbeitnehmer innerhalb von 20 Kalendertagen entlassen will) und unterlaufen dem Arbeitgeber bei der Massenentlassungsanzeige Fehler, so sind sämtliche ausgesprochene Kündigung unwirksam.

Denn nach der bisherigen und äußerst streng gehandhabten Rechtsprechungspraxis des BAG stellt § 17 KSchG, der die Anzeigepflicht von Massenentlassungen regelt, ein Verbotsgesetz (i.S.d. § 134 BGB) dar. Wird gegen dieses Verbotsgesetz verstoßen, so ist das zugrundeliegende Rechtsgeschäft (hier: die ausgesprochene Kündigung) unwirksam.

Dies sieht der 6. Senat des BAG nun mittlerweile anders: Die Anzeigepflicht nach § 17 KSchG soll es der Arbeitsverwaltung lediglich ermöglichen, sich auf die durch eine größere Anzahl von Entlassungen hervorgerufene Belastung des örtlichen Arbeitsmarkts einzustellen. Sie verfolge damit ausschließlich arbeitsmarktpolitische Zwecke. In die unternehmerische Entscheidungs- und rechtsgeschäftliche Gestaltungsfreiheit des Arbeitgebers solle gerade nicht eingegriffen werden, so der 6. Senat.

Da der 6. Senat mit dieser Rechtsauffassung von der bisherigen Entscheidungspraxis des 2. Senats abweicht, fragte er im Dezember 2023 im Wege des Vorlagebeschlusses an, ob der 2. Senat an seiner Rechtsauffassung festhalten wolle (vgl. BAG, Vorlagebeschluss vom 14.12.2023 – 6 AZR 157/22).

(Noch) keine Antwort des 2. Senats

Doch der 2. Senat des BAG lässt mit seiner Antwort nun erst einmal auf sich warten. Bevor er zur Anfrage des 6. Senats Stellung nimmt, möchte er vom EuGH zunächst einige Fragen zur Auslegung der den §§ 17 ff. KSchG zugrundeliegenden Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG) beantwortet bekommen (Pressemitteilung). Mit Beschluss vom 1. Februar 2024 (2 AS 22/23 (A)) setzte der 2. Senat daher das Anfrageverfahren aus und rief im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens den EuGH an.

Fragen an den EuGH

Konkret möchte der 2. Senat des BAG vom EuGH wissen:

  1. Ist die Massenentlassungsrichtline dahingehend auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?
  2. Wenn ja, setzt das Ablaufen der Entlassungssperre eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige voraus?
  3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, die Massenentlassungsanzeige nachholen – mit der Folge, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?
  4. Kann es der zuständigen Behörde überlassen werden, bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?
Die Rechtsauffassung des 2. Senats

Auch wenn der 2. Senats durch Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens die Klärung der Rechtsfrage, welche Auswirkungen Fehler bei der Massenentlassungsanzeige haben, nun erst einmal hinauszögert, sind seine Fragen an den EuGH dennoch aufschlussreich. Denn sie geben Einblick in die durch den 2. Senat vertretene Rechtsauffassung.

So führt der 2. Senat in seiner Begründung der Vorlagefragen aus, dass er es in Übereinstimmung mit dem 6. Senat durchaus für möglich halte, dass die Unwirksamkeit einer Kündigung aufgrund von Fehlern in Massenentlassungsanzeige eine unverhältnismäßige Rechtsfolge sei. Allerdings müsse man nach Ansicht des 2. Senats differenzieren:  Hat der Arbeitgeber gar keine Massenentlassungsanzeige erstattet oder war diese „lediglich“ fehlerhaft?

Für den Fall, dass der Arbeitgeber gänzlich von der erforderlichen Massenentlassungsanzeige abgesehen hat, möchte der 2. Senat die Rechtsauffassung vertreten, dass die Rechtswirkungen der Kündigung (also die Beendigung des Arbeitsverhältnisses) erst dann eintreten, wenn die Massenentlassungsanzeige nachgeholt wurde und der Agentur für Arbeit damit die aus ihrer Sicht notwendige Vorbereitungszeit für die Vermittlung zur Verfügung steht. Dieser Zeitraum bestimmt sich nach § 18 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG (sog. Entlassungssperre). Das gekündigte Arbeitsverhältnis soll bis zum Ablauf der Entlassungssperre mit seinen bisherigen Rechten und Pflichten fortbestehen. Das heißt, der Arbeitgeber soll dem Arbeitnehmer jedenfalls bis zum Ablauf der Entlassungssperre die vereinbarte Vergütung fortzahlen müssen, auch wenn er ihn nicht beschäftigt. Dies solle selbst dann gelten, so der 2. Senat, wenn das Arbeitsverhältnis aufgrund einer kürzeren Kündigungsfrist bereits zu einem früheren Zeitpunkt hätte enden können.

Wie geht es nun weiter?

Die Klärung der Divergenz der Rechtsauffassungen des 6. und 2. Senats wird erst nach Beantwortung der aufgeworfenen Fragen durch den EuGH erfolgen; bleiben beide Senate uneins, hat der „Große Senat“ des BAG zu entscheiden.

Angesichts der Vielzahl von Angaben, die der Arbeitgeber im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige machen muss, und damit potentieller Fehlerquellen, wäre eine Änderung der Rechtsprechung des BAG im Sinne der Rechtsauffassung des 6. Senats durchaus wünschenswert. Zumindest sollte die strenge Nichtigkeitsfolge bei bloßen Fehlern im Anzeigeverfahren abgeschwächt werden. Bis die Rechtsfrage abschließend geklärt ist, ist bei der Erstattung von Massenentlassungsanzeigen weiterhin größte Sorgfalt zu wahren.

Lena Fersch

Rechtsanwältin

Senior Associate
Lena Fersch berät und vertritt nationale und internationale Unternehmen in sämtlichen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Neben Restrukturierungsprojekten berät sie ihre Mandanten zudem in Kündigungsrechtsstreitigkeiten, im Bereich des Betriebsverfassungsrechts sowie in der Vertragsgestaltung. Sie ist Mitglied der Fokusgruppe "Whistleblowing und Compliance".
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