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Wetterbedingte Überstunden: Mitbestimmung bei unvorhersehbaren Umwelteinflüssen?

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Beschlagenes Fenster, auf dem mit dem Finger eine Uhr gemalt wurde

Das Thema „Überstunden“ ist allgegenwärtig. 12 % der 37,8 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland haben 2021 Überstunden geleistet. Das ergibt eine Auswertung der Daten des Infozensus 2021 durch das Statistische Bundesamt. Bei anhaltenden Fachkräftemangel dürfte die Zahl der Überstunden tendenziell weiter steigen.

Auseinandersetzungen mit dem Betriebsrat könnten sich deshalb mehren. Denn Überstunden sind mitbestimmungspflichtig und der Betriebsrat muss diese immer absegnen. Oder?

Nicht immer. Bei Schichtenden, die sich aufgrund von Witterungs- und Verkehrsverhältnissen nicht exakt planen lassen, muss der Betriebsrat u.U. ein paar Extra-Minuten hinnehmen, ohne nochmal gefragt zu werden. Denn dann hat der Arbeitgeber keinen Einfluss auf den pünktlichen Feierabend.

Grundsätzlich weitreichende Mitbestimmung in Arbeitszeitfragen

Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in Bezug auf die Arbeitszeit der Beschäftigten ist weitreichend und vielseitig. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG sind nicht nur Beginn und Ende, sondern auch die Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage mitzubestimmen. Darüber hinaus sind nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG auch die vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit mit dem Betriebsrat zu verhandeln. Nicht mitbestimmt ist die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit. Mit diesem weiten Mitspracherecht sollen die Interessen der Arbeitnehmer an der Lage der Arbeitszeit berücksichtigt und die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit mit dem Betriebsrat gemeinsam erörtert werden.

Vor diesem Hintergrund sind regelmäßig auch Schicht- bzw. Dienstpläne mit dem Betriebsrat zu verhandeln. Auch die Entscheidung darüber, ob an Samstagen gearbeitet wird oder ob die Arbeitszeit auf lediglich 4 Tage verteilt wird, muss mit dem Betriebsrat abgestimmt werden. Sehr weitreichend hat der Betriebsrat bei der Schichtplanung auch dann mitzureden, wenn es sich nur um die Änderung oder den Wegfall einer einzelnen Schicht handelt. Sogar auf die Zuordnung des konkreten Arbeitnehmers zu einer konkreten Schicht kann der Betriebsrat Einfluss nehmen.

Diese Reichweite bei der Mitbestimmung gilt auch bei Überstunden. Überstunden sind „Verlängerungen der betriebsüblichen Arbeitszeit“. Der Betriebsrat entscheidet daher mit, ob und in welchem Umfang Überstunden zu leisten sind und auch darüber, welcher Arbeitnehmer die jeweiligen Überstunden leisten soll. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Überstunden angeordnet oder geduldet werden oder ob sie freiwillig vom jeweiligen Arbeitnehmer geleistet werden oder nicht.

Nicht jede Überstunde ist aber vom Arbeitgeber vorhersehbar oder bewusst herbeigeführt. Bestimmte Konstellationen solcher unvorhersehbaren Überstunden hat die Rechtsprechung vom Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ausgenommen.

Keine Mitbestimmung bei Überstunden wegen Schlechtwetter und Stau

Manchmal ist das genaue Ende der Schicht von vornherein ungewiss und daher nicht planbar. Gegenstand der Rechtsprechung hierzu waren v.a. Tätigkeiten im öffentlichen Personennahverkehr, z.B. als Busfahrer (vgl. LAG Schleswig-Holstein vom 02.02.2017 – 5 TaBV 11/16 unter Verweis auf BAG vom 23.03.1999 – 1 ABR 33/98). Die jeweilige Fahrtoute der Fahrer muss unter Einhaltung der Straßenverkehrsregeln ordnungsgemäß beendet werden.

Jedoch hat hierbei eine Vielzahl von Faktoren Einfluss auf das konkrete Ende der Schicht. Besonders bedeutend sind hierbei die täglichen Witterungs- und Straßenverkehrsverhältnisse. Ein verspäteter Feierabend kann sich so aufgrund von Sturm, Schneefall und Glatteis ergeben oder ist auf Staus und andere Verkehrsbehinderungen (Baustellen, Unfälle etc.) zurückzuführen. Durch solche Witterungs- und Verkehrsverhältnisse ausgelöste Überschreitungen des schicht-/dienstplanmäßigen Endes der Arbeitszeit unterliegen aber dann nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, wenn sie weder für den Arbeitgeber vorhersehbar noch beeinflussbar sind. Denn bei Tätigkeiten mit fest vorgegebenen Routen ist das geplante Ende der Schicht regelmäßig nur ein fiktiver Durchschnittswert.

Wichtig hierbei ist jedoch, dass die Schichtverteilung so organisiert ist, dass der Arbeitgeber nicht schon „sehenden Auges“ Überstunden in Kauf nimmt. Das prognostizierte Schichtende muss nach arbeitszeitwissenschaftlicher Erkenntnis erreichbar sein.

Folgen für die Praxis

Unvorhersehbare Überschreitungen der täglichen Arbeitszeit gibt es auch in vielen Bereichen außerhalb des öffentlichen Nahverkehrs. Zu denken ist etwa an Außendienstmitarbeiter, Kurierfahrer und Tätigkeiten der (privatrechtlich organisierten) Personenbeförderung. In diesen Branchen, in denen bestimmte Routen vorgegeben und eine sofortige Beendigung der Tätigkeit „mitten auf der Strecke“ meist nicht möglich ist, dürfte die Interessenlage vergleichbar sein.

Mit welcher Reichweite diese mitbestimmungsrechtliche Ausnahme aber von der Rechtsprechung akzeptiert und ggf. sogar auf andere Tätigkeiten übertragen wird, ist nicht mit Sicherheit absehbar. Deshalb muss im Einzelfall geprüft werden, ob ein Mitbestimmungstatbestand in der jeweiligen Konstellation eröffnet ist oder nicht.

Deutlich rechtssicherer und daher zu empfehlen ist eine arbeitgeberseitige Verlängerung der täglichen Arbeitszeit auf Basis einer im Voraus mitbestimmten Vereinbarung. Dies kann z.B. in Form einer Regelungsabrede oder eine Betriebsvereinbarung geschehen. Diskussionen mit dem Betriebsrat über einen späten Feierabend können so vermieden werden.

KLIEMT.Arbeitsrecht




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