Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat bestätigt, dass durch Tarifverträge der Zeitarbeit von dem sog. Equal-Pay-Grundsatz „nach unten“ abgewichen werden kann (Urteil vom 31. Mai 2023, Az. 5 AZR 143/19 – Pressemitteilung). Im Ergebnis dürfen Leiharbeitnehmer auf dieser Basis (weiterhin) für dieselbe Arbeit schlechter bezahlt werden als Stammarbeitnehmer beim Entleiher. Wir erläutern Hintergrund, Inhalt und Folgen der Entscheidung.
In § 8 Abs. 1 Satz 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) ist der Gleichstellungsgrundsatz für die Leiharbeit verankert. Danach haben Leiharbeitnehmer für die Dauer ihrer Überlassung gegenüber dem Verleiher Anspruch auf die gleichen wesentlichen Arbeitsbedingungen (einschließlich Arbeitsentgelt) wie vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers (auch „equal-treatment/equal-pay-Grundsatz“ genannt; sehen Sie zur Haftung in diesem Kontext unseren Blogbeitrag vom 30. April 2018).
Von diesem Grundsatz kann gemäß § 8 Abs. 2 AÜG durch Tarifvertrag oder Bezugnahme hierauf abgewichen werden; der Verleiher hat dem Leiharbeitnehmer dann die nach diesem Tarifvertrag geschuldeten Arbeitsbedingungen zu gewähren. Praktisch sind diese Abweichungen verbreitet. Die hier besprochene Entscheidung des BAG beschäftigt sich mit dieser Tariföffnung und ihren Grenzen.
Der zu entscheidende Fall
Die Klägerin war befristet bei dem beklagten Verleiher als Leiharbeitnehmerin beschäftigt. In der streitgegenständlichen Zeit (Januar – April 2017) war sie hauptsächlich einem Entleiher überlassen und erhielt zuletzt einen Bruttostundenlohn von EUR 9,23. Sie hat behauptet, dass vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers einen Bruttostundenlohn von EUR 13,64 erhielten, und erhob unter Berufung auf den Gleichstellungsgrundsatz Klage auf Zahlung der Differenzvergütung für den Streitzeitraum.
Auf das Leiharbeitsverhältnis fand kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit das zwischen dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) und der Gewerkschaft ver.di abgeschlossene Tarifwerk Anwendung. Dieses sah insbesondere eine Abweichung von dem Gleichstellungsgrundsatz vor. Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, dass diese Ungleichbehandlung nicht mit Artikel 5 Absatz 3 der Leiharbeitsrichtlinie (RL 2008/104/EG (Leiharbeits-RL)) vereinbar sei und deshalb gegen Unionsrecht verstieße. Nach dieser Regelung können – kurz gesagt – Tarifverträge vereinbart werden, die unter „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen. Dieser Schutz sei nicht gewährleistet.
Die Beklagte vertrat die gegenteilige Rechtsposition und bestritt die klägerseits genannte Lohnhöhe vergleichbarer Stammarbeitnehmer mit Nichtwissen. Nachdem die Klage in den Vorinstanzen abgewiesen wurde, legte die Klägerin Revision bei dem BAG ein.
Vorlagefrage und Entscheidung des EuGH: Kompensation durch gleichwertige Ausgleichsvorteile
Das BAG hatte das Verfahren zunächst mit Beschluss vom 16. Dezember 2020 (5 AZR 143/19 (A)) ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um Vorabentscheidung von Rechtsfragen im Zusammenhang mit der von der Leiharbeits-RL verlangten, aber nicht näher definierten „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“, ersucht. Mit Urteil vom 15. Dezember 2022 (C-311/21) hat der EuGH diese Fragen beantwortet und bestätigt, dass Leiharbeitnehmer bei Anwendung eines Tarifvertrages grundsätzlich schlechter bezahlt werden dürfen. Dafür müsse der Tarifvertrag im Gegenzug aber Ausgleichsvorteile in Bezug auf „wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ gewähren, die eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen.
Entscheidung des BAG: Tarifwerk genüge Anforderungen der Leiharbeitsrichtlinie
Das BAG setzte diese EuGH-Entscheidung nun im konkreten Fall um und hat entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf ein Entgelt wie vergleichbare Stammarbeitnehmer bei dem Entleiher hat, sondern nur auf die tarifliche Vergütung. Denn das einschlägige Tarifwerk genüge, jedenfalls im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Schutzvorschriften für Leiharbeitnehmer, den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 der Leiharbeits-RL.
Tarifvertrag: Ausgleich durch Entgeltfortzahlung auch in verleihfreien Zeiten
Wenn vergleichbare Stammarbeitnehmer tatsächlich eine höhere Vergütung erhielten, hätte die Klägerin zwar einen Nachteil erlitten, da sie eine geringere Vergütung als im Falle einer unmittelbaren Einstellung bei dem Entleiher auf dem gleichen Arbeitsplatz erhalten hätte. Eine solche Schlechterstellung sei aber zulässig, da sie unter „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ erfolgt sei. Ein möglicher Ausgleichsvorteil zur Neutralisierung könne nach dem EuGH bei unbefristeten wie auch befristeten Leiharbeitsverhältnissen die Fortzahlung des Entgelts auch in verleihfreien Zeiten sein. Und dies sei hier der Fall:
- Nach deutschem Recht seien verleihfreie Zeiten – anders als in einigen anderen europäischen Ländern – auch bei befristeten Leiharbeitsverhältnissen stets möglich, z.B. wenn (wie im Streitfall) der Leiharbeitnehmer nicht ausschließlich für einen bestimmten Einsatz eingestellt wird oder der Entleiher sich vertraglich ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Leiharbeitnehmer vorbehalte. Das hier einschlägige Tarifwerk gewährleiste die Fortzahlung der Vergütung in verleihfreien Zeiten.
- Zusätzlich sehe der deutsche Gesetzgeber Schutzvorschriften vor:
- Nach § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG kann das Recht des Leiharbeitnehmers auf Vergütung bei Annahmeverzug des Verleihers (§ 615 Satz 1 BGB) nicht – wie sonst grundsätzlich möglich – durch Vertrag aufgehoben oder beschränkt werden. Damit werde zwingend sichergestellt, dass Verleiher das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten uneingeschränkt tragen.
- Auch habe der Gesetzgeber dafür gesorgt, dass die tarifliche Vergütung von Leiharbeitnehmern staatlich festgesetzte Lohnuntergrenzen (vgl. § 8 Abs. 2 Satz 1 AÜG) und den gesetzlichen Mindestlohn (vgl. § 3 des Mindestlohngesetzes) nicht unterschreiten darf.
- Ferner sei die Abweichung vom Grundsatz gleichen Arbeitsentgelts nach § 8 Abs. 4 Satz 1 AÜG zeitlich grundsätzlich auf die ersten neun Monate des Leiharbeitsverhältnisses begrenzt.
Aus diesen Gründen werde insgesamt den Anforderungen, die von der Leiharbeits-RL an die „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ gestellt werden, genügt.
Bewertung der Entscheidung und Folgen für die Praxis
Die Entscheidung des BAG schafft Rechtsklarheit und ist aus Sicht der Unternehmen begrüßenswert. Die Sorge in der Zeitarbeitsbranche vor Nachzahlungen an Arbeitnehmer und Sozialversicherungsträger hat sich damit als unbegründet herausgestellt.
Im Ergebnis bleibt alles wie bisher. Es kann künftig auch weiter darauf vertraut werden, dass entsprechende Tarifwerke wirksam vereinbart und damit anwendbar sind.