Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) kommt ein hoher Beweiswert zu. In der Konsequenz sind auch die Anforderungen für Arbeitgeber, diesen Beweiswert zu erschüttern, hoch. Der Arbeitgeber muss tatsächliche Umstände darlegen und beweisen, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben. Zuletzt hatte das BAG über den Beweiswert einer zeitgleich mit der Eigenkündigung eingereichten AUB (hierzu unser Blogbeitrag vom 28.12.2023) sowie im Hinblick auf einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Kündigung und vermeintlicher Arbeitsunfähigkeit (hierzu unser Blogbeitrag vom 8.1.2024) entschieden. Nunmehr ist es der Frage nachgegangen, ob ein Verstoß des behandelnden Arztes gegen Vorgaben über die Bescheinigung einer AUB deren Beweiswert beeinflussen kann. Mit seiner Entscheidung vom 28.6.2023 – 5 AZR 335/22 hat es klargestellt, dass der Beweiswert einer AUB auch erschüttert sein kann, wenn ein Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (nachfolgend: AU-RL) durch den Arzt vorliegt.
Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie
Grundsätzlich entfaltet die AU-RL (abrufbar auf der Website des Gemeinsamen Bundesausschusses, G-BA) keine unmittelbare Geltung für das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Es handelt sich um Richtlinien, welche Verpflichtungen für Vertragsärzte begründen und das Leistungsverhältnis zwischen gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern und ihrer gesetzlichen Krankversicherung bestimmen. Die AU-RL regelt, insbesondere in den §§ 4 und 5, konkrete Vorgaben zum Verfahren zur Feststellung und Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit. Es werden hierbei allgemeine medizinische Erfahrungs- und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit festgeschrieben. So darf beispielsweise die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nur auf Grund einer ärztlichen Untersuchung erfolgen. Eine Rückdatierung des Beginns der Arbeitsunfähigkeit ist nur im Ausnahmefall nach gewissenhafter Prüfung und in der Regel nur bis zu drei Tage zulässig. Ferner soll die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit nicht für einen mehr als zwei Wochen im Voraus liegenden Zeitraum bescheinigt werden. Schließlich sind die vom Arzt im Rahmen der „Ausfertigung für den Versicherten“ attestierten Symptome (z. B. Fieber, Übelkeit) nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen.
Beweiswerterschütterung durch Verstoß gegen AU-RL
Kann aber ein Verstoß gegen die Vorgaben der AU-RL den Beweiswert der AUB erschüttern, speziell dann, wenn der Arzt es versäumt, die zunächst attestierten Symptome durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen? Dazu verhielt sich das BAG in seiner Entscheidung vom 28.6.2023, deren Grundlage ein Streit der Arbeitsvertragsparteien über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall war. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 30.9.2020, woraufhin der Arbeitnehmer zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorlegte; zunächst eine Erstbescheinigung vom 7.9.2020 bis 20.9.2020, unmittelbar danach eine Folgebescheinigung vom 21.9.2020 bis 30.9.2020. Im Gerichtsverfahren legte der Arbeitnehmer dann die „Ausfertigung für den Versicherten“ vor, aus der die Arbeitsunfähigkeit begründende Diagnose ersichtlich war. Die behandelnde Ärztin hatte jeweils die Schlüsselnummer für „Gelenkschmerz Schulterregion rechts“ angegeben. Jedoch unterblieb in der Folge die von der AU-RL vorgesehene, nach sieben Tagen zu erfolgende Angabe über eine konkrete Diagnose.
Das BAG hat in diesem Rahmen erstmals hervorgehoben, dass Verstöße gegen Bestimmungen der AU-RL grundsätzlich geeignet sind, den Beweiswert einer AUB im Rahmen der Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO zu erschüttern. Dem stünde nicht entgegen, dass die ärztliche AUB gemäß § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG keine Angabe über Art und Ursache der Arbeitsunfähigkeit erfordere. Mache der Arbeitnehmer über die notwendigen Angaben über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer hinaus freiwillig weitere Angaben über die Ursache – wie im entschiedenen Fall durch Vorlage der „Ausfertigung für den Versicherten“ im Prozess – so könne sich der Arbeitgeber diesen Vortrag im Rahmen der Erschütterung der Beweiskraft der AUB zu eigen machen. Dem Arbeitgeber im vom BAG entschiedenen Fall half diese allgemeine Feststellung des BAG dennoch nicht, da der Arbeitnehmer hier u.a. seine Arbeitsunfähigkeit durch einen MRT-Befund konkret nachweisen konnte.
Prüfung der AUB auf Verstöße gegen AU-RL
Für Arbeitgeber kann sich fortan eine Prüfung der eingereichten AUB auf offensichtliche Fehler lohnen. Das gilt auch in Bezug auf elektronisch abrufbare AUB, da diese ebenfalls die üblichen Bestandteile (Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit und Kennzeichnung als Erst- und Folgeerkrankung sowie Ausstellungsdatum) enthalten. Neben den üblichen Auffälligkeiten (z. B. hinsichtlich des Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit), die oft zum Anlass genommen werden, die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers anzuzweifeln, sollten Arbeitgeber in Zukunft genau prüfen, ob die Vorschriften der AU-RL beachtet wurden, soweit ihnen das möglich ist. Ergeben sich daraus begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit, kann es ratsam sein, die Entgeltfortzahlung einzustellen. Denn die Rückforderung einmal gezahlten Entgelts vom Arbeitnehmer ist in der Praxis oft wenig erfolgsversprechend. Nicht gefeit sind Arbeitgeber jedoch auch weiterhin davor, dass ein Arbeitnehmer trotz Erschütterung des Beweiswerts der AUB im Gerichtsprozess seine Arbeitsunfähigkeit anderweitig beweist.
Dieser Beitrag ist mit freundlicher Unterstützung von Emil Schneider (Referendar im Berliner Büro) entstanden.