Der Arbeitgeber kann nicht darauf vertrauen, dass der Betriebsratsvorsitzende zur Unterzeichnung einer Betriebsvereinbarung berechtigt ist. Er muss sich vielmehr vergewissern, dass ein ordnungsgemäßer Betriebsratsbeschluss vorliegt. Tut er dies nicht, riskiert er die Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung. Dies folgt aus einem aktuellen BAG-Urteil.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Wird eine Betriebsvereinbarung vom Betriebsratsvorsitzenden unterzeichnet, ohne dass dem ein Beschluss des Betriebsratsgremiums zugrunde liegt, ist die Vereinbarung unwirksam. Dies gilt nach einer jüngst veröffentlichen Entscheidung des BAG (1 AZR 233/21) selbst dann, wenn der Arbeitgeber keine Anhaltspunkte für das Fehlen eines Betriebsratsbeschlusses hat und aufgrund des Verhaltens der übrigen Betriebsratsmitglieder darauf vertraut, dass die Unterzeichnung durch den Vorsitzenden von einem entsprechenden Beschluss gedeckt ist. Angesichts dieser Rechtsprechung sind Arbeitgeber gut beraten, sich bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung stets vom Vorliegen eines ordnungsgemäßen Betriebsratsbeschlusses zu überzeugen.
Der Fall
Bei der Arbeitgeberin bestand eine Betriebsvereinbarung, die Regelungen zur Vergütung enthielt. In einer neuen Betriebsvereinbarung wurden diese Regelungen durch ein anderes Vergütungssystem abgelöst. Die neue Betriebsvereinbarung wurde vom Betriebsratsvorsitzenden unterzeichnet, ohne dass ein Beschluss des Betriebsratsgremiums vorlag. In einer Betriebsversammlung, bei der sämtliche Betriebsratsmitglieder anwesend waren, wurden die Arbeitnehmer über die Inhalte der neuen Betriebsvereinbarung informiert. Anschließend wurden die Arbeitnehmer – wiederum unter Mitwirkung des Betriebsrats – in das neue Vergütungssystem eingruppiert. Die Arbeitgeberin hatte von dem fehlenden Betriebsratsbeschluss keine Kenntnis und wurde hierüber von den Betriebsratsmitgliedern auch nicht informiert.
Nach Durchführung der Eingruppierung machte ein Arbeitnehmer, der nach dem geänderten Vergütungssystem eine niedrigere Vergütung erhielt, geltend, die neue Betriebsvereinbarung sei mangels Vorliegens eines Betriebsratsbeschlusses unwirksam.
Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht wiesen die Klage des Arbeitnehmers ab. Es fehle zwar an dem erforderlichen Betriebsratsbeschluss. Der Betriebsratsvorsitzende habe jedoch mit „Anscheinsvollmacht“ gehandelt. Weder er noch die übrigen Betriebsratsmitglieder hätten die Arbeitgeberin über den fehlenden Beschluss informiert und durch ihr Verhalten den Eindruck einer wirksamen Vertretung sogar noch verstärkt. Auf den hierdurch erzeugten Rechtsschein habe die Arbeitgeberin vertrauen dürfen. Die ablösende Betriebsvereinbarung sei daher wirksam.
Die Entscheidung des BAG
Das Bundesarbeitsgericht sah dies anders. Entgegen den Vorinstanzen – und der bislang überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum – seien die im Zivilrecht allgemein anerkannten Grundsätze der Anscheinsvollmacht auf den Abschluss von Betriebsvereinbarungen nicht anzuwenden.
Eine unmittelbare Anwendung dieser Grundsätze scheitere schon an § 26 Abs. 2 S. 1 BetrVG. Danach vertritt der Betriebsratsvorsitzende den Betriebsrat (nur) „im Rahmen der von ihm gefassten Beschlüsse“. Für eigenständige, von Beschlüssen des Gremiums losgelöste Erklärungen des Betriebsratsvorsitzenden sei daher von vorherein kein Raum.
Auch eine analoge Anwendung der Grundsätze der Anscheinsvollmacht lehnte das BAG ab. Ihr stehe der Rechtscharakter einer Betriebsvereinbarung als Normenvertrag entgegen. Die bloße Erzeugung eines Rechtsscheins durch den Betriebsrat oder seine Mitglieder könne keine Geltung von Rechtsnormen im Betrieb begründen.
Die Anerkennung einer Anscheinsvollmacht beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen sei auch nicht aus Gründen der Rechtssicherheit notwendig. Denn der Arbeitgeber könne sich selbst vom Vorliegen eines ordnungsgemäßen Betriebsratsbeschlusses überzeugen. Er könne vom Betriebsrat insbesondere die Aushändigung einer (auszugsweisen) Kopie der Sitzungsniederschrift verlangen, aus der sich die Beschlussfassung ergibt. Diesem Verlangen des Arbeitgebers müsse der Betriebsrat jedenfalls dann nachkommen, wenn es „zeitnah“ nach Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung geäußert werde.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des BAG hat Auswirkungen für die betriebliche Praxis. Hat der Betriebsratsvorsitzende eine Betriebsvereinbarung unterzeichnet, wird das Vorliegen eines Betriebsratsbeschlusses vom Arbeitgeber häufig nicht mehr hinterfragt – auch um das Verhältnis zum Vorsitzenden nicht zu belasten. Wird die Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung später angezweifelt, konnte sich der Arbeitgeber bislang zumindest noch auf die Grundsätze der Anscheinsvollmacht berufen. Deren Anwendbarkeit beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen wurde bislang ganz überwiegend bejaht. Reichweite und Grenzen dieser Rechtsfigur waren zwar im Einzelnen umstritten. Der Arbeitgeber konnte aber jedenfalls dann auf den „Anschein“ eines Betriebsratsbeschlusses vertrauen, wenn die Mehrheit der Betriebsratsmitglieder das nicht durch einen Betriebsratsbeschluss gedeckte Verhalten des Vorsitzenden kannte und gleichwohl untätig blieb.
Dieses Vertrauen können sich Arbeitgeber nach der aktuellen Entscheidung des BAG nicht mehr leisten. Um das Risiko einer – u.U. erst Jahre später gerichtlich festgestellten – Unwirksamkeit von Betriebsvereinbarungen zu vermeiden, muss bei deren Abschluss stets auch das Vorliegen eines ordnungsgemäßen Betriebsratsbeschlusses überprüft werden. Da der Arbeitgeber bei der Beschlussfassung des Betriebsrats nicht anwesend ist, ist dies in der Regel nur anhand der Sitzungsniederschrift möglich. Diese muss der Betriebsrat dem Arbeitgeber bei „zeitnahem“ Verlangen auch (in Kopie) zur Verfügung stellen. Zu Dokumentationszwecken sollte sie dann gemeinsam mit der Betriebsvereinbarung zu den Akten genommen werden.