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Wenn die Tarifverträge nicht mehr passen – Was tun?

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Kostendruck, Bedarf nach mehr Flexibilität, wirtschaftliche Schieflage: Die Ursachen können vielfältig sein. Wenn Unternehmen feststellen, dass die bisher angewandten Tarifverträge den unternehmerischen Bedürfnissen nicht mehr gerecht werden, schrecken dennoch viele davor zurück, das Thema in Angriff zu nehmen. Zu Recht?

Bestandsaufnahme erforderlich

Ohne gründliche Bestandsaufnahme Hals über Kopf die vermeintliche „Tarifflucht“ anzutreten, ist jedenfalls kein Erfolgsrezept; nicht ganz zu Unrecht wird das Tarifrecht von so manchem auch als Königsdisziplin des Arbeitsrechts bezeichnet.

Nicht selten muss zunächst ein historisch gewachsenes Dickicht aus Verbandsmitgliedschaft, Haustarifverträgen, verschiedensten arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln und betrieblichen Übungen durchleuchtet werden.

Welche Handlungsoptionen gibt es?

Denn wer nicht genau weiß, welche Tarifverträge auf welcher rechtlichen Grundlage Anwendung finden, kann passende Handlungsoptionen weder identifizieren noch bewerten. Regelmäßig kommen insbesondere folgende Optionen in Betracht:

  • Austritt aus dem Arbeitgeberverband
  • Wechsel in die OT-Mitgliedschaft des Arbeitgeberverbands („Ohne Tarifbindung“)
  • Wechsel in einen anderen Arbeitgeberverband
  • Kündigung von Haustarifverträgen (ggf .auch außerordentlich)
  • Abschluss eines (neuen) Haustarifvertrags
  • Abschluss eines firmenbezogenen Verbandstarifvertrags

Welche Option ist die Richtige?

Ein Patentrezept für die Anpassung der Tarifsituation existiert nicht. Vielmehr sind maßgeschneiderte Lösungen auf Basis der unternehmensspezifischen Ausgangslage und der angestrebten Ziele erforderlich. Hierbei kommt es u.a. auf folgende Faktoren an:

  • Soll eine direkte „Verbesserung“ der Tarifsituation erreicht werden (z.B. Kürzung von Sonderzahlungen; Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Entgeltanpassung)?
  • Wird eine Abkopplung von der Tarifdynamik der Flächentarifverträge („Einfrieren“ des Status quo) angestrebt?
  • Ist ein einvernehmliches Vorgehen mit der Gewerkschaft realistisch, z.B. weil sich das Unternehmen nachweislich in einer wirtschaftlichen Schieflage befindet?
  • Ist das Unternehmen bereit, auch Widerstände von Arbeitnehmerseite inkl. Streikrisiko in Kauf zu nehmen?

Augen auf bei der Verwendung von Bezugnahmeklauseln

Besondere Bedeutung kommt regelmäßig arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln zu. Denn wenn z.B. alle Arbeitsverträge vorbehaltlos dynamisch auf die Flächentarifverträge einer bestimmten Branche verweisen, bringt ein Austritt aus dem entsprechenden Arbeitgeberverband herzlich wenig – die Arbeitnehmer können weiterhin die Anwendung dieser Tarifverträge (inkl. zukünftiger Tariferhöhungen) für sich beanspruchen.

Haustarifvertrag kein Allheilmittel mehr

Nach neuerer Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann eine solche arbeitsvertragliche Bezugnahme auch häufig nicht mehr durch einen Haustarifvertrag durchbrochen werden. Der bis vor kurzem in Unternehmenskrisen noch fast reflexhafte Griff zum Sanierungstarifvertrag in Form eines Haustarifvertrags kann sich deshalb schnell als teurer und existenzbedrohender Fehlgriff erweisen.

Neben der entsprechenden Berücksichtigung bei der Wahl der richtigen Handlungsoption sollte insoweit bereits bei der Gestaltung von Arbeitsverträgen angesetzt werden. Denn durch die Verwendung „veränderungsoffener“ Bezugnahmeklauseln lässt sich eine gegenüber veralteten Standardklauseln deutlich verbesserte Flexibilität erreichen.

Fazit

Die Angst davor, eine Anpassung der Tarifsituation in Angriff zu nehmen, ist unbegründet. Eine One-fits-all-Lösung gibt es zwar nicht. Der unternehmensspezifischen Ausgangslage und den angestrebten Zielen kann aber durch maßgeschneiderte Lösungen Rechnung getragen werden; hierfür steht eine ganze Bandbreite möglicher Optionen zur Verfügung. Anstatt Hals über Kopf die vermeintliche „Tarifflucht“ anzutreten, sollte zunächst eine gründliche Bestandsaufnahme erfolgen. Wer in Arbeitsverträgen noch veraltete Standardklauseln für die tarifliche Bezugnahme verwendet, sollte diese – auch unabhängig von einer geplanten Anpassung der Tarifsituation – mit veränderungsoffenen Bezugnahmeklauseln auf den neuesten Stand bringen.

Jörn-Philipp Klimburg LL.M.

Rechts­an­walt
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Principal Counsel
Jörn-Philipp Klimburg berät deutsche und internationale Unternehmen sowie öffentlich-rechtliche Institutionen umfassend in allen Fragen des Arbeitsrechts. Schwerpunkte bilden die Gestaltung und Begleitung von Restrukturierungen, Outsourcing-Projekten und M&A-Transaktionen sowie die Vertretung in Arbeitsgerichtsprozessen. Besondere Expertise hat er zudem im Betriebsverfassungs- und Tarifvertragsrecht sowie im Bereich der Anstellungsverhältnisse von Vorständen und Geschäftsführern. Jörn-Philipp Klimburg ist bei KLIEMT.Arbeitsrecht verantwortlich in der Fokusgruppe "Whistleblowing und Compliance".
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