Mit Urteil vom 9. Juli 2015 (Rs. C-229/14, „Balkaya“) hat der EuGH entschieden, dass Fremdgeschäftsführer im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige mit zu berücksichtigen sind. Der EuGH bestätigt damit seine Rechtsprechung, die von einem weiten Arbeitnehmerbegriff ausgeht und infolgedessen auch (Fremd-)Geschäftsführer als Arbeitnehmer qualifiziert. Die Entscheidung wirft eine Vielzahl von Fragen auf. Dies gilt zum einen im Hinblick auf die Folgen im Rahmen einer Massenentlassung. Unklar ist aber auch, ob die Rechtsprechung auch auf andere Organe oder sogar weitere Rechtsbereiche übertragbar ist.
Praxisfolgen
Die Entscheidung ist von praktischer Bedeutung. Dies gilt insbesondere an den Grenzen der verschiedenen Schwellenwerte nach § 17 Abs. 1 KSchG (20/60/500 „Arbeitnehmer“), da hiervon abhängt, ob eine anzeigepflichtige Massenentlassung überhaupt vorliegt. Arbeitgebern ist daher anzuraten, Fremdgeschäftsführer bei der Anzahl der regelmäßig im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer mit zu berücksichtigen.
Unklar ist weiterhin, ob sich ein Geschäftsführer auf eine etwaige Unwirksamkeit der Massenentlassung berufen kann, wenn er bei der Massenentlassungsanzeige nicht berücksichtigt wird. Dies wird sicherlich ausgeschlossen sein, soweit die Beendigung des Dienstvertrags dem Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 KSchG nicht mitgeteilt wird, da ein Betriebsrat für Organe nicht zuständig ist (§ 5 Abs. 2 BetrVG). Ebenso wird eine fehlende Berücksichtigung nicht das Recht zur jederzeitigen Abberufung (§ 38 Abs. 1 GmbHG) einschränken. Die Organstellung ist von dem zugrundliegenden Vertragsverhältnis zu trennen. Anders gestaltet sich jedoch die Rechtslage, wenn die Beendigung des Dienstvertrags nicht gegenüber der Agentur für Arbeit angezeigt wird. Nach der Rechtsprechung führt ein Verstoß gegen § 17 KSchG zur Unwirksamkeit der Kündigung (BAG v. 28.05.2009 – 8 AZR 273/08). Da die Unwirksamkeit der Kündigung Sanktionsfolge von Verstößen gegen die Anzeigepflicht ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass dies auch für die Kündigung des Dienstvertrags gilt.
Folgen für die Arbeitnehmer?
Weniger gravierend sind die Folgen im Hinblick auf die Kündigungen der übrigen Arbeitnehmer. Eine unvollständige oder unrichtige Anzeige führt nicht per se zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige. Etwaige richtige Angaben hinsichtlich der Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer wirken sich auf die Kündigung nur dann aus, wenn sie Auswirkungen auf die Agentur für Arbeit haben können. Dies ist dann nicht zu bejahen, wenn die angegebene Zahl der Entlassungen die der tatsächlich beabsichtigten oder erklärten Kündigung nur geringfügig übersteigt (BAG v. 28.06.2012 – 6 AZR 780/10). Arbeitnehmer, deren Beendigung ihrer Arbeitsverhältnisse angezeigt wurde, können sich daher bei einer fehlenden Berücksichtigung des Geschäftsführers nicht auf eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige berufen.
Übertragbarkeit der Grundsätze auf andere Organe?
Unter Bezugnahme auf die „Danosa“-Entscheidung (Rs. C 232/09 v. 11.11.2010) bejaht der EuGH eine Arbeitnehmereigenschaft, wenn zwischen dem Organ und der Gesellschaft ein Unterordnungsverhältnis vorliege. Ein solches sei gegeben, wenn die Tätigkeiten nach Weisung oder Aufsicht ausgeübt werden und jederzeit eine Abberufung vom Amt erfolgen könne. Die rechtliche Qualifikation des zugrundeliegenden Beschäftigungsverhältnisses nach nationalem Recht sei hingegen irrelevant.
Unter Berücksichtigung dieser Kriterien sei daher ein Fremdgeschäftsführer als Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinne zu verstehen, da dieser jederzeit gegen seinen Willen abberufen werden könne und zudem den Weisungen und der Aufsicht der Gesellschafterversammlung unterliege. Ob dies auch dann gelten soll, wenn die jederzeitige Abberufbarkeit durch Satzung eingeschränkt wird (§ 38 Abs. 2 GmbHG) bleibt offen.
Ausgehend von den Kriterien des EuGH wird eine Arbeitnehmereigenschaft ferner abzulehnen sein, bei Geschäftsführern, die über 50 % der Gesellschaftsanteile verfügen oder aber aufgrund der Satzung eine Sperrminorität haben. Ebenso werden Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften nicht als Arbeitnehmer beurteilt werden können, da diese die Gesellschaft in eigener Verantwortung, d.h. selbständig und frei von Weisungen (§ 76 Abs. 1 AktG), leiten und eine jederzeitige Abberufbarkeit kraft Gesetzes eingeschränkt ist (§ 84 Abs. 3 AktG). Konsequenterweise werden Geschäftsführer paritätisch mit bestimmter Gesellschaften ebenfalls nicht als Arbeitnehmer beurteilt werden können. Für diese gelten kraft Gesetzes (§ 31 MitbestG) die Regeln des AktG für die Bestellung und Anstellung ebenfalls. Eine jederzeitige Abberufbarkeit ist somit ebenfalls eingeschränkt (§ 84 Abs. 3 AktG).
Übertragbarkeit der Grundsätze auf andere Gesetze?
Es ist davon auszugehen, dass die Qualifikation von Fremdgeschäftsführern als Arbeitnehmer darüber hinaus zur Anwendbarkeit weiterer arbeitsrechtlicher Schutzgesetze führt. Denn ebenso wie § 17 KSchG beruhen weitere gesetzliche Regelungen auf unionsrechtlichen Vorgaben. Dies gilt u.a. für das MuSchG, das AGG, das ArbZG und das BUrlG. Fremdgeschäftsführer werden sich somit wohl auch auf die dortigen Schutzvorschriften berufen können.
Hingegen bedarf die Kündigung eines Geschäftsführers weiterhin nicht der sozialen Rechtfertigung nach dem KSchG, da der erste Abschnitt des KSchG – anders als § 17 KSchG – nicht auf unionsrechtlichen Vorgaben beruht.
Unwirksamkeit von § 17 Abs. 5 Nr. 1 KSchG
17 Abs. 5 Nr. 1 KSchG ist nach der Entscheidung des EuGH europarechtswidrig und muss angepasst werden. Es ist davon auszugehen, dass die Rechtsprechung die Vorschrift entgegen des klaren Wortlauts „richtlinienkonform“ auslegt. Dass sich die Rechtsprechung hiervon nicht abhalten lässt, hat die Vergangenheit bereits gezeigt. So bejaht das BAG einen Verfall von Urlaubsansprüchen im Falle einer Langzeiterkrankung bei „richtlinienkonformer Auslegung“ entgegen des Wortlauts von § 7 Abs. 3 BUrlG erst nach Ablauf von 18 Monaten.
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