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Betriebliches Eingliederungsmanagement: Neue Hürden bei krankheitsbedingten Kündigungen

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Das BAG verschärft die Anforderungen an die Bemühungen des Arbeitgebers beim betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM). Bisher haben Unternehmen in der Regel (allenfalls) einmal pro Jahr ein bEM durchgeführt, wenn Arbeitnehmer mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt waren. Eine neue Entscheidung des BAG macht es nun notwendig, innerhalb von zwölf Monaten auch mehrfach ein bEM durchzuführen – ein bereits durchgeführtes bEM habe kein „Mindesthaltbarkeitsdatum von einem Jahr“.

Ein bEM ist gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX mit Mitarbeitern durchzuführen, die innerhalb eines Jahres mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig sind. Als präventive Maßnahme soll der Arbeitgeber im Rahmen des bEM bei Gefährdung des Arbeitsplatzes wegen häufiger Arbeitsunfähigkeit gemeinsam mit dem Arbeitnehmer klären, ob weitere Arbeitsunfähigkeit vermieden werden und wie und in welcher Form eine Weiterbeschäftigung im Unternehmen möglich sein kann. Mit dem bEM soll also durch die Suche milderer Mittel einem Verlust des Arbeitsplatzes vorgebeugt werden.

bEM – Formsache vor Ausspruch einer Kündigung?

An das Unterlassen eines bEM knüpft das Gesetz keine Rechtsfolgen. Auswirkungen ergeben sich aber im Rahmen krankheitsbedingter Kündigungen. Das Unterlassen oder die fehlerhafte Durchführung kann zu erhöhten Anforderungen für den Arbeitgeber bei der Darlegung des Kündigungsgrundes im Prozess führen, nämlich hinsichtlich des (Nicht-)Bestehens von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten. Lehnt hingegen ein Arbeitnehmer eine Teilnahme an einem bEM ab, spricht dies dagegen, dass durch ein bEM mildere Mittel als die Kündigung hätten identifiziert werden können.

Das bEM ist keine formale Voraussetzung einer Kündigung. Ohne vorausgegangenes bEM ist eine Kündigung nicht per se unwirksam. Der Arbeitgeber kann in einem Prozess vortragen, dass ein bEM keine Abhilfe geschafft hätte. Sind dem Arbeitgeber die Krankheitsursachen nicht bekannt, gestaltet sich die Darstellung jedoch als schwierig und begründet ein hohes Prozessrisiko.

Tatsächlich ist ein bEM hinsichtlich seines originären Zwecks häufig nicht zielführend. Gerade von Arbeitnehmerseite besteht oftmals nur ein geringes oder gar kein Interesse an der Mitwirkung, denn diese erfordert ein mehr oder weniger offenes Gespräch zu den Krankheitsursachen, wozu Arbeitnehmer nicht gern bereit sind. Nicht zuletzt befürchten Arbeitnehmer, damit dem Arbeitgeber erst die Argumente für eine personenbedingte (also krankheitsbedingte) Kündigung zu liefern.

Die Entscheidung des BAG: Kein „Mindesthaltbarkeitsdatum von einem Jahr“

Nach bisherigem Verständnis des § 167 Abs. 2 SGB IX hatten Arbeitgeber mit dem Arbeitnehmer bei mehr als sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit pro Jahr ein bEM durchzuführen. Das BAG (Urteil vom 18.11.2021, Az. 2 AZR 138/21) hatte nun die Frage zu beantworten, ob innerhalb eines 12-Monatszeitraums bei wiederholter Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechswöchiger Dauer ein bEM ein weiteres Mal durchzuführen ist.

Das BAG entschied tatsächlich in diesem Sinn: Erkrankt der Arbeitnehmer nach Abschluss eines bEM erneut innerhalb eines Jahres für mehr als sechs Wochen, ist grundsätzlich ein weiteres bEM durchzuführen. Dies gilt auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten bEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist.

Nach Ansicht des Gerichts ist nicht ausgeschlossen, dass sich innerhalb von sechs Wochen die Sachlage verändert und ein neuerliches bEM anders verlaufen kann. War ein Arbeitnehmer also zwischen Abschluss des letzten bEM und der Kündigung abermals länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig, so meint das BAG, dass mildere Mittel zur Vermeidung einer Kündigung hätten vorliegen können. Das soll auch dann gelten, wenn der Arbeitnehmer wegen derselben Krankheit weiterhin (also durchgängig) arbeitsunfähig ist.

Der Arbeitgeber kann jedoch einwenden, ein erneutes bEM wäre nutzlos gewesen. Hierfür trägt er jedoch die Darlegungs- und Beweislast. Gelingt ihm diese Darlegung mangels vorhandener Informationen nicht, kann bereits deswegen die Kündigung unwirksam sein.

Fazit und Empfehlung

Das bEM als in vielen Unternehmen etablierter Prozess wird aufgrund dieser neuen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts mit viel zusätzlicher Arbeit belastet (im Übrigen auch für Betriebs- und Personalräte, gegebenenfalls Schwerbehindertenvertretungen, Integrationsämter und Betriebsärzte). Ob diesem administrativen Zusatzaufwand ein „echter Mehrwert“ in der betrieblichen Praxis gegenübersteht, wird man sehen müssen, ist aber aus unserer (Praktiker-)Sicht doch leider zu bezweifeln.

Ob der ausdehnenden Auslegung des § 167 Abs. 2 SGB IX in Zukunft auch häufiger vertrauensvolle und ernsthafte Gespräche im bEM folgen, nur weil dieses nun öfter anzubieten ist als bisher, und so weiterer Arbeitsunfähigkeit entgegengewirkt und Kündigungen vermieden werden können, bleibt ebenfalls abzuwarten. Arbeitgeber werden sich aber hierauf einzustellen haben.

Denkbar ist nun in jedem Fall, dass im Verlaufe von zwölf Monaten ein bEM nicht nur einmal, sondern sogar zweimal oder noch öfter durchzuführen ist.

Autor: Stephan Nakszynski

Keywords: krankheitsbedingte Kündigung – Präventionsverfahren – betriebliches Eingliederungsmanagement – bEM – Krankheit

Stephan Nakszynski


Rechtsanwalt
Senior Associate
Stephan Nakszynski berät und vertritt nationale und internationale Unternehmen in sämtlichen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Neben Restrukturierungsprojekten berät er seine Mandanten zudem in Kündigungsrechtsstreitigkeiten, im Bereich des Betriebsverfassungsrechts sowie in der Vertragsgestaltung. Er ist Mitglied der Fokusgruppe "Whistleblowing und Compliance".
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