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Arbeitsvertrag Tarifvertrag

Über Bande gespielt: Beendigung der Tarifdynamik bei arbeitsvertraglicher Bezugnahme auf Anerkennungstarifvertrag

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Arbeitsvertragliche dynamische Bezugnahmeklauseln, welche die Anwendung bestimmter Tarifverträge in ihrer jeweils gültigen Fassung vorsehen, können für Unternehmen durchaus reizvoll sein. Sie schaffen ein einheitliches, von der individuellen Gewerkschaftszugehörigkeit unabhängiges Regelwerk im Betrieb und mindern gleichzeitig den Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt. Kehrseite der Medaille: Insbesondere Tariflohnerhöhungen müssen – auch in schlechten Zeiten – stets an die Mitarbeiter weitergegeben werden. Wie diese Dynamik beendet werden kann, zeigt ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts.

Tarifausstieg – Mission: Impossible?

Im Gegensatz zu einer statischen Verweisung erstreckt sich die dynamische Bezugnahme auch auf zukünftige Änderungen des Tarifvertrags und damit insbesondere auf Tariflohnerhöhungen. Jedenfalls bei ab dem Jahr 2002 vereinbarten arbeitsvertraglichen Klauseln ist diese Bezugnahme im Zweifel konstitutiv, d.h. unabhängig von der normativen Tarifbindung des Unternehmens etwa kraft (Voll-)Mitgliedschaft im tarifschließenden Arbeitgeberverband.

Allein durch einen Verbandsaustritt oder Wechsel in die OT-Mitgliedschaft („Ohne Tarifbindung“) kann sich das Unternehmen somit nicht einseitig von der Tarifdynamik lösen, soweit die Arbeitsverträge eine dynamische Bezugnahme auf die Verbandstarifverträge vorsehen. Erforderlich wäre insoweit vielmehr eine einvernehmliche Änderungsvereinbarung mit jedem einzelnen der betroffenen Mitarbeiter – eine besondere Herausforderung, denn bei der Beendigung der Tarifdynamik geht es fast immer um bares Geld.

Doch wie sieht es aus, wenn ein Anerkennungstarifvertrag „zwischengeschaltet“ ist, d.h. arbeitsvertraglich auf einen Anerkennungstarifvertrag Bezug genommen wird, der seinerseits dynamisch auf Verbandstarifverträge verweist? Kann das Unternehmen mit der Kündigung des Anerkennungstarifvertrags „zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“ und sowohl die normative als auch die arbeitsvertragliche Tarifdynamik einseitig beenden? Das Bundesarbeitsgericht hat diese Frage kürzlich bejaht (Urteil v. 22.3.2017 – 4 AZR 462/16).


Worum ging es in der Entscheidung?

In dem vom BAG zu entscheidenden Fall schloss die Beklagte, ein in der chemischen Industrie tätiges Unternehmen, einen Anerkennungstarifvertrag mit der Gewerkschaft IG BCE. Die anerkannten Tarifverträge – sämtliche Verbandstarifverträge der chemischen Industrie – sollten nach dem Willen der Parteien in ihrer jeweils aktuellen Fassung gelten. Individualvertraglich vereinbarte die Beklagte mit ihren Mitarbeitern, unter anderem mit dem Kläger, dass der Anerkennungstarifvertrag Bestandteil des Arbeitsverhältnisses wird und dessen Regelungen vollumfänglich auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden.

Die Beklagte kündigte den Anerkennungstarifvertrag mit Wirkung zum 31. Dezember 2011. Die ab dem 1. Januar 2012 in den Verbandstarifverträgen der chemischen Industrie vereinbarten Tariferhöhungen gab sie nicht mehr an den Kläger weiter. Dagegen wehrte sich der Kläger letztlich erfolglos.

Verbandstarifverträge „eingefroren“

Nach Ansicht der Richter war allein der Anerkennungstarifvertrag das Bezugnahmeobjekt der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel. Denn bereits nach dem Wortlaut der Vereinbarung sollten allein die Regelungen des Anerkennungstarifvertrags Bestandteil des Arbeitsvertrages sein. Durch die zweistufige Verweistechnik sei festgelegt worden, die weitere Anwendbarkeit der tariflich in Bezug genommenen Verbandstarifverträge sollte von der Fortwirkung des individualvertraglich in Bezug genommenen Anerkennungstarifvertrags abhängig gemacht werden. Es sei der Vereinbarung nicht zu entnehmen, dass die Regelungen der Verbandstarifverträge unabhängig vom Anerkennungstarifvertrag Anwendung finden sollten.

Eine arbeitsvertragliche Bezugnahme ausschließlich auf die Regelungen des Anerkennungstarifvertrags habe zur Folge, dass die Dynamik der Verbandstarifverträge für das Arbeitsverhältnis endet, sobald der Anerkennungstarifvertrag diese Dynamik nicht mehr zu vermitteln mag. Dies sei anzunehmen, wenn der Anerkennungstarifvertrag – wie vorliegend nach erfolgter Kündigung und Ablauf der Kündigungsfrist – nur noch nachwirke. Denn die Nachwirkung einer Tarifregelung beschränke sich inhaltlich darauf, den Zustand bis zum Abschluss einer anderen Abmachung zu erhalten, der bei Beendigung des Tarifvertrags bestanden habe.

Die Regelungen in den Verbandstarifverträgen wurden für die betroffenen Arbeitsverhältnisse also in dem Zustand „eingefroren“, den sie im Zeitpunkt des Eintritts der Nachwirkung (mit Ablauf des 31. Dezember 2011) hatten. Weil das Unternehmen die Tarifdynamik durch die Kündigung des Anerkennungstarifvertrags erfolgreich beendet hatte, war die weitere Tarifentwicklung ab dem 1. Januar 2012 nicht mehr an die Mitarbeiter weiterzugeben. Die Verbandstarifverträge galten nur noch statisch fort.

Praxistipp

Arbeitgeber sollten genauestens darauf achten, wie sie Bezugnahmeklauseln einsetzen und sich hierbei gegebenenfalls beraten lassen. Denn wie das vorgestellte Urteil zeigt, entscheidet insbesondere die Formulierung der Bezugnahmeklausel über Erfolg oder Misserfolg eines späteren Tarifausstiegs – mit auch finanziellen Auswirkungen, die sich schnell im Millionen-Euro-Bereich summieren können.

Möchten sich Unternehmen auch in Zukunft größtmögliche Flexibilität im Hinblick auf die Tarifdynamik erhalten, sollten sie arbeitsvertraglich lediglich auf einen Anerkennungstarifvertrag (soweit vorhanden) verweisen, der seinerseits dynamisch auf Verbandstarifverträge Bezug nimmt.

Vorsicht ist geboten, wenn überlegt wird, bereits im Arbeitsvertrag auf einen Verbandstarifvertrag „in seiner jeweils geltenden Fassung“ zu verweisen. Denn von dieser Dynamik kann sich der Arbeitgeber nicht ohne Weiteres lösen. Hierzu bedürfte es der Zustimmung des Mitarbeiters, die in den meisten Fällen jedoch nur schwer einzuholen sein wird.

Für Unternehmen schwindet auch vor diesem Hintergrund die Attraktivität unmittelbarer Tarifbindung per (Voll-)Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband. Flexiblere Lösungen lassen sich z.B. per OT-Mitgliedschaft und Vereinbarung eines Anerkennungstarifvertrags erreichen, zumal insoweit auch unternehmensspezifische Regelungsbedürfnisse berücksichtigt und tarifvertraglich umgesetzt werden können.

Jörn-Philipp Klimburg LL.M.

Rechts­an­walt
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Principal Counsel
Jörn-Philipp Klimburg berät deutsche und internationale Unternehmen sowie öffentlich-rechtliche Institutionen umfassend in allen Fragen des Arbeitsrechts. Schwerpunkte bilden die Gestaltung und Begleitung von Restrukturierungen, Outsourcing-Projekten und M&A-Transaktionen sowie die Vertretung in Arbeitsgerichtsprozessen. Besondere Expertise hat er zudem im Betriebsverfassungs- und Tarifvertragsrecht sowie im Bereich der Anstellungsverhältnisse von Vorständen und Geschäftsführern. Jörn-Philipp Klimburg ist bei KLIEMT.Arbeitsrecht verantwortlich in der Fokusgruppe "Whistleblowing und Compliance".
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