In der Beitragsreihe „Folgen eines Brexit“ finden Sie eine Übersicht dazu, welche Änderungen sich aus Sicht des Vereinigten Königreiches in verschiedenen für die Personalarbeit relevanten Bereichen ergeben könnten. Wir haben hierzu mehrere Beiträge unserer ius laboris-Allianzkanzlei Lewis Silkin angesichts der enormen praktischen Relevanz für international agierende Unternehmen ins Deutsche übersetzt. In Teil 1 der Serie befasst sich Andrew Osborne, Partner bei Lewis Silkin, mit den Konsequenzen für das britische Einwanderungsrecht.
Was bedeutet ein Brexit für das britische Einwanderungsrecht?
Das Konzept der transnationalen Unionsbürgerschaft bildet eines der Wesensmerkmale der EU (Artikel 9 des Vertrages über die Europäische Union). Aus diesem Konzept abgeleitet ist das Recht auf Freizügigkeit. Der Immigration Act 1988 wurde verabschiedet, um EU-Bürger mit Recht auf Freizügigkeit vom britischen Einwanderungsrecht auszunehmen.
Szenario 1: Vollständiger Brexit
Ein vollständiger Brexit würde der Reisefreiheit zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ein Ende setzen. EU-Bürger und ihre Angehörigen würden unter die britische Einwanderungskontrolle fallen.
Das Vereinigte Königreich müsste entscheiden, wie mit EU-Staatsangehörigen und deren Familienangehörigen zu verfahren ist, die bereits in Großbritannien leben. Der genaue Umfang eines solchen Vorhabens ist unklar. Denn es gibt keine zuverlässigen Daten zur Anzahl der in Großbritannien lebenden EU-Bürger, da deren Reisepässe bei der Einreise nicht gestempelt werden. Sie benötigen auch keine britische Versicherungsnummer und müssen als EU-Bürger Ihre Aufenthaltsberechtigung im Vereinigten Königreich nicht nachweisen (wenngleich dies viele dennoch tun, um potenziellen Arbeitgebern die Überprüfung ihrer Arbeitserlaubnis zu erleichtern oder anderen Einbürgerungs- oder Einwanderungsanträgen nachzukommen).
Die Regierung hat bislang nicht verlauten lassen, wie sie im Falle einer Aussetzung der Reisefreiheit der bereits im Vereinigten Königreich lebenden EU-Bürger vorgehen würde. Eine Möglichkeit wäre die Entwicklung neuer Einwanderungskategorien im Rahmen der Einwanderungsbestimmungen (Immigration Rules), um EU-Bürger und deren Angehörige der Einwanderungskontrolle zu unterwerfen. EU-Bürger und ihre Familien könnten dann diesen neuen Weg einschlagen, um ihre Anträge einzureichen. Wahrscheinlich ist, dass sie Ihre Anträge mit Nachweisen ihrer EU-Rechte bzw. der Ausübung bereits bestehender EU-Vertragsrechte im Vereinigten Königreich untermauern müssten.
Alternativ könnte es die britische Regierung EU-Bürgern auch ermöglichen, auf alternative Zuwanderungskanäle auszuweichen, die die Immigration Rules bereits jetzt vorsehen. Dann könnten EU-Bürger Anträge als geförderte Fachkräfte stellen oder sich auf britische Familienmitglieder berufen und somit in Großbritannien verbleiben. Dauerhaft aufenthaltsberechtigte EU-Bürger könnten einen Antrag auf unbegrenzten Aufenthalt stellen. Es würde sich kaum etwas ändern, bei Letzerem greifen jedoch die Einwanderungsbestimmungen. Die beiden in Frage kommenden Verfahren sind jedoch äußerst komplex. Sie basieren auf einem komplizierten Geflecht von Einwanderungsbestimmungen, Anhängen und Richtlinien. Es könnte sein, dass die hohe Zahl an Anträgen in Folge eines Brexit auch mithilfe der genannten Verfahren nicht bewältigbar ist, sofern das Parlament keine gesonderten Einwanderungskategorien für EU-Bürger vorsieht. Die Antragsbearbeitung im Rahmen der genannten Zuwanderungskanäle könnte zum Erliegen kommen, wenn nicht das gesamte System so nachgebessert wird, dass die zu erwartende Antragsflut bewältigt werden kann.
Die Möglichkeit eines Wechsels zwischen bestehenden und neu zu entwickelnden Kategorien des Einwanderungsrechts dürfte jedoch in jedem Fall nur provisorischer Natur sein und ausschließlich EU-Bürgern offenstehen, die bereits jetzt im Vereinigten Königreich leben und arbeiten. Die britische Regierung könnte sich auch dazu entschließen, zwischen EU-Bürgern mit Nachweis ihrer EU-Rechte und solchen ohne diesen Nachweis zu differenzieren. Nur Ersteren könnte es gestattet werden, ohne Weiteres in die Kategorien der Immigration Rules zu wechseln. Es besteht die Möglichkeit, dass die ohne Nachweis in Großbritannien lebenden EU-Bürger gezwungen werden, solche Nachweise vorzulegen. In diesem Fall wären Sie vor einem Wechsel gezwungen, die Ausübung ihrer vertraglichen Rechte im Vereinigten Königreich zu belegen. Ansonsten könnte ihr Aufenthalt im Vereinigten Königreich nach einer gewissen Zeit für illegal erklärt werden.
Die britische Regierung hat bislang keine konkreten Planungen zu den Mitteln vorgelegt, die für die Nachbesserung der Immigration Rules, die Bearbeitung der Anträge der EU-Bürger und die Ausstellung der zugehörigen Dokumente erforderlich wären. Es ist davon auszugehen, dass die Kosten auf die Antragsteller umgelegt werden, soweit dies möglich ist.
Szenario 2: Das Vereinigte Königreich handelt ein Abkommen mit der EU aus
In diesem Szenario würden Vereinigtes Königreich und EU die Reisefreiheit beibehalten, die Briten behielten den Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt und würden in den EU-Haushalt einzahlen. In diesem Fall würde die Beziehung zwischen Vereinigtem Königreich und der EU der Norwegens oder Islands ähneln. Ein solcher Brexit würde in der Praxis nur sehr wenige Veränderungen mit sich bringen.
Das Vereinigte Königreich könnte ein Assoziationsabkommen mit der EU aushandeln. EU-Bürger und Briten würden weiterhin von der Freizügigkeit profitieren. EU-Bürger müssten keine Anträge auf neue oder bereits existierende Einstufungen nach den Immigration Rules stellen. Stattdessen würde das Vereinigte Königreich Gesetze verabschieden, die sich an der derzeitigen Gesetzgebung orientieren und die EU-Bürger vom System der Einwanderungskontrolle ausnehmen. Diese neuen Gesetze würden sich an dem zwischen Vereinigtem Königreich und EU ausgehandelten Abkommen orientieren, nicht an geltendem EU-Recht.
Szenario 3: Das Vereinigte Königreich handelt einzelne Abkommen mit bestimmten EU-Ländern aus
Eine weitere Möglichkeit ist, dass das Vereinigte Königreich Abkommen nur mit bestimmten EU-Ländern, nicht aber mit der EU insgesamt, aushandelt. In diesem Szenario kämen Briten die Bürger derjenigen Länder, mit denen Abkommen ausgehandelt würden, in den Genuss der gegenseitigen Reisefreiheit. Die Briten müssten zudem Gesetze verabschieden, um die Bürger der Länder, mit denen Abkommen geschlossen würden, von der Einwanderungskontrolle auszunehmen.
Staatsangehörige der übrigen EU-Länder könnten sich ähnlich wie unter Szenario 1 für einen begrenzten Zeitraum für bereits existierende oder noch zu verabschiedende Immigration Rules bewerben. Sollte es zum Abschluss von Abkommen zwischen Vereinigtem Königreich und einzelnen EU-Staaten kommen, müssten die Bürger der übrigen EU-Länder das Vereinigte Königreich möglicherweise verlassen oder würden zu illegalen Einwanderern erklärt. Hierin liegt eine mögliche Ursache für beträchtliche sozioökonomische Umwälzungen.
Folgen möglicher Änderungen des Einwanderungsrechts auf die britische Wirtschaft
Je nach Szenario entstünden unterschiedliche Auswirkungen auf Gesetze, internationale Abkommen, Bestimmungen und Richtlinien zur Einwanderung in das Vereinigte Königreich. Jedes der denkbaren Brexit-Szenarien birgt ein gewisses Maß an Ungewissheit, die sich weit mehr auf die britische Wirtschaft auswirken könnte als die Änderungen im Einwanderungsrecht.
Gesetzesänderungen, mit denen EU-Bürger zum Verlassen des Vereinigten Königreichs aufgefordert würden, könnten Lücken in den britischen Arbeitsmarkt reißen und sich so auf die Wirtschaft insgesamt auswirken. Denn derzeit sind EU-Bürger sowohl als Fachkräfte als auch als ungelernte Arbeitskräfte im Vereinigten Königreich tätig.
Bei den Brexit-Szenarien, nach denen EU-Bürger einen ordentlichen Einwanderungsstatus erlangen können, könnten sich Arbeitnehmer dennoch entschließen, das Land zu verlassen, anstatt ständig steigende Visagebühren zu bezahlen. Angeworbene Fachkräfte müssen für ein fünf Jahre gültiges Tier 2 (General) Visa für sich und zwei Angehörige derzeit Gebühren in Höhe von mindestens 8.452 Pfund zahlen. Arbeitgebern würden daher beträchtliche Kosten entstehen, wollten sie Bewerber im Visaverfahren finanziell unterstützen, etwa für den Erwerb von Lizenzen zur Förderung von Fachkräften.
Branchen, in denen viele Zuwanderer beschäftigt sind, wären am stärksten von einem Brexit betroffen. Industrie und Handel sowie das Gastgewerbe würden besonders leiden, da hier 10,4 bzw. 7,7 Prozent der Angestellten EU-Bürger sind. Auch in der Transport- und Finanzbranche wären die Folgen spürbar, da auch in diesen Bereichen ein hoher Anteil an EU-Bürgern beschäftigt ist.
Ursprünglich veröffentlicht durch Lewis Silkin am 7. Juni 2016.