Bei einem betriebsbedingten Personalabbau ist regelmäßig eine Sozialauswahl durchzuführen. Tendenziell sind dabei ältere Arbeitnehmer sozial schutzwürdiger als ihre jüngeren Kollegen. Gilt dies auch dann, wenn ein Arbeitnehmer kurz vor der Rente steht? Oder schlägt in diesem Fall das Pendel in die andere Richtung aus und muss der rentennahe Mitarbeiter seinen Arbeitsplatz räumen?
Ist die Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung für einen oder mehrere Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse entfallen und übersteigt die Zahl der vorhandenen Mitarbeiter die Zahl der verbliebenen Arbeitsplätze, hat der Arbeitgeber die zu kündigenden Arbeitnehmer per Sozialauswahl zu ermitteln: Von den vergleichbaren Arbeitnehmern des Betriebs verlieren diejenigen ihren Arbeitsplatz, welche nach Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung sozial am wenigsten schutzwürdig sind (§ 1 Abs. 3 KSchG). Durch die Berücksichtigung des Auswahlkriteriums „Lebensalter“ soll dabei dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Ältere typischerweise größere Schwierigkeiten haben, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Inwiefern eine Rentennähe zulasten betroffener Arbeitnehmer berücksichtigt werden kann, hat das BAG in seinem Urteil vom 8. Dezember 2022 (6 AZR 31/22) herausgearbeitet. Über die Pressemitteilung haben wir bereits auf unserem Blog berichtet. Die Entscheidungsgründe liefern weitere wertvolle Erkenntnisse.
Ambivalenz des Lebensalters
Beim Auswahlkriterium „Lebensalter“ handelt es sich um eine ambivalente Größe: Einerseits steigt die Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers mit zunehmendem Alter zunächst an, weil sich die Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt bei höherem Alter typischerweise verschlechtern. Andererseits verliert das Auswahlkriterium „Lebensalter“ im Hinblick auf seinen Zweck, dem Arbeitnehmer mit seinem Arbeitsplatz seine wesentliche Einkommensquelle zu sichern, mit der näher rückenden Altersrente an Aussagekraft. Daher hat das BAG bereits vor einiger Zeit entschieden, dass ein Arbeitnehmer, welcher eine Regelaltersrente beziehen kann oder tatsächlich bezieht, jedenfalls hinsichtlich des Auswahlkriteriums „Lebensalter“ deutlich weniger schutzwürdig ist (Urteil vom 27. April 2017 – 2 AZR 67/16). Doch was gilt, wenn der Arbeitnehmer die Altersrente zwar noch nicht zum Zeitpunkt der Kündigung, jedoch in absehbarer Zeit beziehen kann – er mithin rentennah ist?
Zwei-Jahres-Zeitraum
Nach Ansicht des BAG liegt eine Rentennähe und damit eine geringere Schutzbedürftigkeit im Hinblick auf das Auswahlkriterium „Lebensalter“ dann vor, wenn der betroffene Arbeitnehmer spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses abschlagsfrei Rente wegen Alters beziehen kann. Die kritische Grenze liegt also bei zwei Jahren. Dabei kommt es für den Beginn des Zwei-Jahres-Zeitraums nicht auf den Zugang der Kündigung, sondern auf den Zeitpunkt an, zu dem das Arbeitsverhältnis durch Ablauf der Kündigungsfrist endet.
Abschlagsfreie Rente
Weitere Voraussetzung ist, dass die Rente abschlagsfrei bezogen werden kann.
- Dies ist bei der Regelaltersrente der Fall, welche die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren und das Erreichen der Regelaltersgrenze voraussetzt. Die Regelaltersgrenze wird für nach dem 31. Dezember 1946 Geborene sukzessive auf bis zu 67 Jahre angehoben (§ 35, § 235 Abs. 2 SGB VI).
- Auch eine Altersrente für langjährig Versicherte kann abschlagsfrei bezogen werden, wenn der Arbeitnehmer die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt und die Altersgrenze von 65 erreicht, welche sich für nach dem 31. Dezember 1948 Geborene ebenfalls sukzessive auf bis zu 67 Jahre erhöht (§ 36, § 236 Abs. 2 SGB VI). Die Möglichkeit, eine Altersrente für langjährig Versicherte ab dem 63. Lebensjahr vorzeitig in Anspruch zu nehmen, begründet hingegen keine Rentennähe, da dies mit Rentenabschlägen verbunden ist.
- Schließlich kommt eine abschlagsfreie Inanspruchnahme einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte in Betracht. Dies ist nach einer Wartezeit von 45 Jahren und Erreichen der Altersgrenze von 63 der Fall, die für nach dem 31. Dezember 1952 Geborene sukzessive auf bis zu 65 Jahre angehoben wird (§ 38, § 236b Abs. 2 SGB VI). Bei dieser Rentenart ist zu berücksichtigen, dass der Bezug von Arbeitslosengeld in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht auf die Wartezeit von 45 Jahren angerechnet wird (§ 51 Abs. 3a Satz 1 Nr. 3 lit. a) SGB VI). Das bedeutet: Arbeitnehmer, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Wartezeit von 45 Jahren noch nicht erfüllt haben, gelten damit – außer bei Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers – nicht als rentennah wegen der Möglichkeit des alsbaldigen Bezugs von Altersrente für besonders langjährig Versicherte, weil sie durch den Bezug von Arbeitslosengeld keine weiteren Wartezeitmonate erwerben können.
Besonderheiten bei schwerbehinderten Menschen
Dagegen darf die Möglichkeit des alsbaldigen Bezugs einer abschlagsfreien Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§ 37, § 236a SGB VI) nicht zulasten des schwerbehinderten Arbeitnehmers beim Auswahlkriterium „Lebensalter“ berücksichtigt werden. Denn dies würde zu einer unzulässigen mittelbaren Diskriminierung wegen der Behinderung führen.
Fazit
Eine Rentennähe löst keinen Automatismus aus, dass der rentennahe Mitarbeiter in jedem Fall seinen Arbeitsplatz räumen muss. Denn sie begründet eine geringere Schutzbedürftigkeit lediglich im Hinblick auf das Auswahlkriterium „Lebensalter“. Der Arbeitgeber hat jedoch sämtliche Auswahlkriterien und damit auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit, die Unterhaltspflichten und eine Schwerbehinderung zu berücksichtigen. Es ist also durchaus möglich, dass ein Arbeitnehmer trotz Rentennähe insgesamt sozial schutzwürdiger ist. Allerdings sollten Arbeitgeber bei Durchführung der Sozialauswahl in jedem Fall das Kriterium der Rentennähe „auf dem Schirm“ haben, da sie im Einzelfall zu einem abweichenden Abwägungsergebnis führen kann.