Hohe Tarifabschlüsse bei sich verschärfender wirtschaftlicher Lage: Eine Situation, die viele Unternehmen mit der Frage konfrontiert, ob sie sich den Tarif noch leisten können oder wollen. Hinzu kommen weitere Unsicherheiten durch den Inhalt des neuen Koalitionsvertrages, in dem die Union der SPD den Wunsch nach dem Tariftreuegesetz erfüllt hat (siehe hierzu S. 18 des Koalitionsvertrages zwischen CDU, CSU und SPD).
Bedeutung der tariflichen Sonderlösungen wächst
In der aktuellen Situation gewinnen daher Sanierungstarifverträge und tarifliche Sonderlösungen in der arbeitsrechtlichen Beratungspraxis zunehmend an Bedeutung. Die Anfragen, wie sich tarifliche Strukturen anpassen lassen, ohne zugleich ganz aus dem Tarif auszusteigen, häufen sich.
Sei es, dass Unternehmen in der Krise dringend tarifvertragliche Lösungen brauchen, um überhaupt noch weiterbestehen zu können, oder dauerhafte Kostenersparnisse gegenüber dem regulären Flächentarifniveau benötigen. In der ersten Fallkonstellation ist in der Regel der Sanierungstarifvertrag das Mittel der Wahl, um die Krise zu überstehen. In der zweiten Fallkonstellation helfen Haustarifverträge, mit denen das allgemeine (Flächen-)Tarifniveau modifiziert werden kann.
Sanierungstarifverträge als vorübergehende Krisenlösung
Sanierungstarifverträge ermöglichen vorübergehende Anpassungen der tariflichen Regelungen. Sie bieten die Flexibilität, tarifliche Leistungen temporär auszusetzen, zu verändern oder zu reduzieren. Dies kann beispielsweise Vergütung, Arbeitszeiten oder Urlaubsansprüche betreffen. Im Gegenzug für den Entgeltverzicht erhalten die Beschäftigten häufig Beschäftigungsgarantien für einen bestimmten Zeitraum; kurz: Verzicht gegen Arbeitsplatzsicherheit. Auf diese Weise können Unternehmen in einer finanziellen Notlage kurzfristig Kosten senken und ihre Liquidität stabilisieren. Bei den Gewerkschaften existieren zudem klare „Leitplanken“ unter welchen Voraussetzungen welche Anpassungen möglich sind. Deshalb lassen sich in der Regel zügige Regelungen mit den Gewerkschaften finden.
Haustarifverträge als dauerhafte Lösung
Sofern jenseits der Krise dauerhaft günstigere Haustarifverträge verhandelt werden sollen, die vom regulären Flächenniveau abweichen, stellen sich die Verhandlungen regelmäßig anspruchsvoller dar. Gewerkschaften (und zumeist auch die Arbeitgeberverbände) wollen ihre Flächentarifverträge schützen. Nach dem Motto: „Wenn einer kommt (und Erleichterungen erhält), kommen sie alle.“ Auch hier sind jedoch in besonderen Fällen Abweichungen realisierbar. Typischerweise werden sog. Anerkennungstarifverträge in Form von Haustarifverträgen vereinbart, welche ein bestimmtes Tarifwerk anerkennen, jedoch unternehmensbezogene Modifikationen vorsehen, z.B. höhere Wochenarbeitszeiten, Aussetzung von Tariferhöhungen, Tausch fester gegen variable Gehaltsbestandteile etc. Gewerkschaften fordern auch hier regelmäßig Beschäftigungs- und Standortzusagen, zwingend sind diese indes nicht.
Neuer Wermutstropfen aus Erfurt
Sofern mit der Gewerkschaft Einigkeit zu einem Sanierungs- oder sonstigem Haustarifvertrag besteht, stellt sich stets ein Folgeproblem: Wie lässt sich sicherstellen, dass Arbeitnehmer, deren Arbeitsverträge Bezugnahmen auf Tarifwerke enthalten, künftig nicht weiter die Leistungen der bisherigen Flächentarifverträge verlangen und sich damit die Rosinen der jeweiligen Tarifverträge herauspicken können?
Dazu hat das Bundesarbeitsgerichts der Praxis jüngst einen Dämpfer verpasst (BAG Urt. v. 12. Juni 2024 – 4 AZR 202/23). Der Arbeitsvertrag des Klägers enthielt unter anderem folgende Bestimmung:
„Auf das Arbeitsverhältnis finden im Übrigen die Tarifverträge für die Metall-, Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens, die Arbeitsordnung, deren Inhalt als rechtsverbindlich anerkannt wird, sowie die jeweils gültigen Betriebsvereinbarungen Anwendung.“
Als der Arbeitgeber zu einem späteren Zeitpunkt einen Sanierungstarifvertrag abschloss, der gegenüber dem Flächentarifvertrag Absenkungen bei tariflichen Einmalzahlungen sowie den tariflichen Mehrarbeitszuschlägen vorsah, vertrat der Kläger die Auffassung, der Sanierungstarifvertrag gelte für ihn nicht. Er begründete seine Auffassung mit einem Verweis auf die obige Bezugnahmeklausel, nach der für ihn lediglich die Flächentarifverträge anwendbar seien. Das BAG stimmte dem Kläger im Ergebnis zu. Die verwendete Bezugnahmeklausel stelle auf die Branche der Metall- und Elektroindustrie und auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen ab. Eine Branche umfasse typischerweise eine Vielzahl von Unternehmen, weshalb bereits im Allgemeinen unter einem Branchentarifvertrag ein Flächentarifvertrag zu verstehen sei. Der Sanierungstarifvertrag werde daher nicht automatisch von der Bezugnahmeklausel erfasst, da er ein unternehmensbezogener Tarifvertrag sei.
Das Urteil ist ein wahrer Wermutstropfen und es ist bedauerlich, dass das BAG mit seiner sehr formellen Bewertung und Auslegung der Arbeitsverträge den Willen der Tarifvertragsparteien konterkariert und damit die Umsetzung tarifvertraglicher Vereinbarungen erschwert. Der Praxis und damit der Verlässlichkeit tariflicher Lösungen ist damit jedenfalls nicht geholfen.
Gleichzeitig stellt der vorstehende Wermutstropfen nicht das Ende von Sanierungs- und sonstigen Haustarifvertragslösungen dar, erfordert jedoch weitergehende sorgfältige Umsetzungsmaßnahmen, um die zwischen den Tarifvertragsparteien gefundene Lösungen auch auf individualvertragliche Ebene nachzuziehen. Dies ist ein anspruchsvolles Unterfangen, jedoch mit strategischem Angang und kreativer Gestaltung in den Griff zu bekommen.
Fazit
Tarifliche Sonderlösungen werden in den kommenden Monaten weiter an Bedeutung gewinnen. Insbesondere, wenn das Tariftreuegesetz in die Praxis umgesetzt wird und Unternehmen auf öffentliche Aufträge angewiesen sind, wird an den tariflichen Lösungen kein Weg vorbeiführen. Der Weg des Tarifaustritts wird in diesen Konstellationen voraussichtlich verbaut sein.