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Pflicht zur Arbeitszeiterfassung – doch Auswirkungen auf den Überstundenprozess?

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Die helle Aufregung hat sich bereits seit Längerem gelegt. Im Jahr 2019 leitete der EuGH (CURIA – Dokumente) aus der Arbeitszeitrichtlinie die Pflicht des Arbeitgebers ab, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einzurichten. Dies löste zunächst Besorgnis aus. Viele befürchteten neue Darlegungs- und Beweislastregeln im Überstundenprozess. Von einer drohenden Klagewelle war teils gar die Rede. So weit kam es nicht. Im Mai 2022 entschied das BAG (5 AZR 359/21) ausdrücklich, dass die Entscheidung des EuGH keine Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess habe. Diverse Arbeitgeber atmeten auf. Nun aber lässt das LAG Niedersachsen in einer Leitsatzentscheidung vom 9. Dezember 2024 (4 SLa 52/24) aufhorchen.

Kontext der Entscheidung

Um die Entscheidung der Hannoveraner Richter einordnen zu können, muss berücksichtigt werden, dass das BAG in der Entscheidung vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21 – Das Bundesarbeitsgericht) zur Überraschung vieler entschieden hat, dass Arbeitgeber schon heute nach nationalem Recht verpflichtet sind, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Nach Auffassung des BAG ergibt sich dies aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG.

Der entschiedene Fall

Das LAG Niedersachsen hatte nun einen Fall zu entscheiden, indem eine Klägerin u.a. die Vergütung von über 3.000 Überstunden geltend machte. Sie behauptete, anstatt der arbeitsvertraglich vereinbarten 24 Wochenstunden für einen Zeitraum von fast drei Jahren stets 44 Wochenstunden geleistet zu haben. Sie sei während der gesamten Betriebsöffnungszeiten (Mo-Do 8-18 Uhr; Fr. 8-17 Uhr) für die Beklagte tätig gewesen, jeweils abzüglich einer einstündigen Pause. Um ihre Behauptung zu untermauern, legte die Klägerin Kalendereinträge der Jahre 2020 bis 2022 vor, ausweislich derer sie – Urlaubs- und Krankenzeiten ausgenommen – stets während der Betriebsöffnungszeiten gearbeitet habe, an Freitagen darüber hinaus auch bis um 18 Uhr. Zudem habe sie teilweise an Samstagen gearbeitet. Die ihr zugewiesenen Aufgaben seien auch während der gesamten Betriebsöffnungszeiten angefallen. Die beklagte Arbeitgeberin hat die angeblich geleistete Arbeitszeit als „schlicht frei erfunden“ bestritten und die Auffassung der Klägerin als absurd bezeichnet, im Zuge der abgestuften Beweislast auf die von der Klägerin vorgelegten Aufzeichnungen substantiiert einen Gegenbeweis führen zu müssen. Den Urteilsgründen ist zu entnehmen, dass die Glaubhaftigkeit des Vortrags der Klägerin auch deshalb in Streit stand, weil in den vorgelegten Kalendereinträgen morgendliche Verspätungen, die es unstreitig gegeben hatte, nicht gesondert vermerkt waren.

Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess

Nachdem das Arbeitsgericht die Klage noch abgewiesen hatte, obsiegte die Klägerin in weiten Teilen vor dem LAG Niedersachsen. Dabei stellte die Kammer im Ausgangspunkt ausdrücklich auf die vom BAG entwickelte Rechtsprechung zur Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess ab. Danach muss der Arbeitnehmer darlegen,

  • an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat und
  • dass geleistete Überstunden vom Arbeitgeber veranlasst oder ihm jedenfalls zuzurechnen sind.

Es ist dann Sache des Arbeitgebers, auf den jeweiligen Vortrag des Arbeitnehmers substantiiert zu erwidern.

Die Entscheidung des LAG

Das LAG Niedersachsen sah die Überstunden der Klägerin – anders als noch das Arbeitsgericht – als hinreichend dargelegt an. Mehr noch: es sah die von der Klägerin behaupteten Überstunden gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden an. Obschon gelegentliche morgendliche Verspätungen der Klägerin zwischen den Parteien unstreitig waren, sah es die Beklagte in der Pflicht, diese Verspätungen der Klägerin konkret nach Datum und Uhrzeit aufzuzeigen, wenn sie solche Zeiten von den behaupteten Überstunden in Abzug bringen wolle. Dabei wertete es das LAG zulasten der beklagten Arbeitgeberin, dass diese entgegen ihrer Pflicht nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG keine Aufzeichnungen vom Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit gefertigt hatte. Die Hannoveraner Richter hoben hervor, dadurch nach eigener Auffassung nicht die Unterscheidung zwischen arbeitsschutzrechtlicher und vergütungsrechtlicher Einordnung der Arbeitszeit zu verkennen. Es gebe aber keinen Grund, warum es der Arbeitgeberin im Hinblick auf eine ohnehin bestehende Verpflichtung zur Arbeitsaufzeichnung nicht zumutbar sein solle, ihre hieraus gewonnenen Erkenntnisse dem Arbeitnehmer im Überstundenprozess auf dessen Vortrag hin entgegenzuhalten. Auch eine Veranlassung der Überstunden durch die beklagte Arbeitgeberin erkannte das LAG. Dafür reichte es dem LAG aus, dass die Beklagte der Klägerin Arbeiten zugewiesen habe, die während der gesamten Betriebsöffnungszeiten permanent anfalle.

Einordnung des Urteils

Das LAG Niedersachsen hat zu seiner Entscheidung folgenden Leitsatz formuliert:

3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG beinhaltet bei einem unionsrechtskonformen Verständnis auch die – grundsätzliche – Verpflichtung der Arbeitgeberin, ein System zur Erfassung der von ihren Arbeitnehmern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzuführen, das Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeit einschließlich der Überstunden umfasst (vgl. BAG 13. September 2022 1 ABR 22/21 Rn. 43 ff.). Es gibt keinen Grund, warum es der Arbeitgeberin im Hinblick auf eine ohnehin bestehende Verpflichtung zur Arbeitsaufzeichnung nicht zumutbar sein soll, ihre hieraus gewonnenen Erkenntnisse dem Arbeitnehmer im Überstundenprozess auf dessen Vortrag entgegenzuhalten.

Bei differenzierter Betrachtung fragt sich der Leser der Entscheidung allerdings unweigerlich, welche Veranlassung das LAG Niedersachsen überhaupt gesehen hat, sich für die Lösung des entschiedenen Falles mit der jüngeren Rechtsprechung des BAG zur Arbeitszeiterfassung auseinanderzusetzen. Denn der entschiedene Fall wäre nach diesseitiger Ansicht anhand der herkömmlichen Grundsätze zur Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess zu lösen gewesen – ohne auch nur ein Wort über die arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit zu verlieren. Sollte die Klägerin im entschiedenen Fall die von ihr geleisteten Überstunden hinreichend konkret dargelegt haben (woran man bei der Lektüre der Entscheidung zumindest Zweifel haben kann), wäre es bereits nach bisherigen höchstrichterlichen Maßstäben Sache der beklagten Arbeitgeberin gewesen, substantiiert zu erwidern und u.a. im Einzelnen vorzutragen, welche Arbeiten sie der Arbeitnehmerin zugewiesen hat. Kann die beklagte Arbeitgeberin einen solchen Vortrag nicht liefern, gilt der Vortrag der Arbeitnehmerin gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. Das ist alles nicht neu und dazu hätte man der Beklagten nicht zusätzlich vorwerfen müssen, ihre Aufzeichnungspflichten nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verletzt zu haben. Der Neuigkeitswert der Feststellung, dass es dem Arbeitgeber zumutbar sei, Erkenntnisse aus der Arbeitszeitaufzeichnung im Überstundenprozess vorzutragen, hält sich demgegenüber in Grenzen.

Fazit

Auch nach der Entscheidung des LAG Niedersachsen bleibt es dabei: Die arbeitsschutzrechtliche Pflicht des Arbeitgebers zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit hat die Grundsätze der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess unangetastet gelassen. Es ist nicht zu erwarten, dass das BAG insoweit zu einer anderen Auffassung gelangt, sollte die vom LAG zugelassene Revision gegen das Urteil durchgeführt werden. Spannend bliebe es dennoch. Denn sowohl bei der Frage, ob die Klägerin die von ihr geleisteten Überstunden hinreichend konkret dargelegt hat als auch, ob diese von der beklagten Arbeitgeberin veranlasst wurden, hat das LAG für die Klägerin äußerst günstige Positionen eingenommen. So ist es keinesfalls evident, dass Überstunden als vom Arbeitgeber veranlasst anzusehen sind, bloß weil die Arbeitnehmerin Aufgaben ausführt, die während der gesamten Betriebsöffnungszeit anfallen.

Thorsten Lammers

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Counsel
Thorsten Lammers berät vor allem zu Kündigungsschutzverfahren, in der Gestaltung von Anstellungs-, Aufhebungs- und Abwicklungsverträgen sowie zu betriebsverfassungsrechtlichen Fragen. Er ist Mitglied der Fokusgruppen "Betriebliche Altersversorgung" und "Aufsichtsratsberatung".
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