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Die Einrichtung von Notdiensten als Voraussetzung rechtmäßiger Streiks

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Einige erinnern sich – im Jahr 1984 führte die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche vor allem in der Metallindustrie zu massiven Streiks. In Westdeutschland fielen mehr als 2,9 Millionen Arbeitstage aus. Verglichen damit waren die 590.009,00 Streiktage im Jahr 2023 gar nicht so viel. Allerdings war die Öffentlichkeit besonders betroffen. Streiks bei Verkehrsunternehmen, in Schulen und Kitas führten zu erheblichem Unmut. Die Statistiken für 2024 liegen noch nicht vor, aber es streikten Lokführer, Sicherheits- und Bodenpersonal an Flughäfen und Lehrkräfte in spürbarem Maße.

Bei Volkswagen sind nun angedrohte Streiks ausgeblieben. In anderen Branchen drohen hingegen auch für 2025 Arbeitskämpfe. Im öffentlichen Nahverkehr und in der Postzustellung wurde bereits zum Streik aufgerufen. Zudem beginnen die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst für den Bund und die Kommunen am 24. Januar 2025, die für mehr als 2,5 Millionen Beschäftigte gelten. Angesichts der angespannten Haushaltslage dürften Arbeitskämpfe nicht unwahrscheinlich sein. Diese könnten Kita-Personal, Feuerwehrleute, Kranken- und Altenpfleger betreffen.

Wie in den letzten Jahren treffen die Streiks in diesen Bereichen ebenso wie im öffentlichen Nah- und Fernverkehr vor allem Dritte – Eltern, Pflegebedürftige, Reisende, Kranke. Das ist gewollt – und nach der Rechtsprechung grundsätzlich zulässig. Allerdings gilt dies nicht uneingeschränkt.

Schutz der Bevölkerung bei Streiks

Denn Arbeitskampfmaßnahmen müssen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Nur dann sind sie rechtmäßig (siehe nur BAG, 22.9.2009 – 1 AZR 972/08).

Dies erfordert, dass der Streik zur Erreichung eines rechtmäßigen Kampfziels geeignet, erforderlich und angemessen (proportional) eingesetzt wird. Während bei der betroffenen Bevölkerung die Angemessenheit bestimmter Streiks der Vergangenheit wohl kritisch bewertet würde, sind die Arbeitsgerichte deutlich zurückhaltender. Das Streikrecht ist im Grundgesetz verankert und genießt daher einen hohen Stellenwert. Eine inhaltliche Bewertung der Streikforderungen erfolgt grundsätzlich nicht – solange die Forderung ein legitimes Ziel ist. Auch andere Einschränkungen des Streikrechts erfolgen nur sehr begrenzt.

Schutz durch Notdienste

Anerkannt ist aber, dass die Einrichtung von Notdiensten erforderlich sein kann, damit ein Streik als verhältnismäßig anzusehen ist. Unter Notdienstarbeiten versteht die Rechtsprechung Notstands- und Erhaltungsarbeiten. Zu diesen können auch streikwillige Beschäftigte verpflichtet werden: Erhaltungsarbeiten sind Arbeiten, die erforderlich sind, um das Unbrauchbarwerden der sächlichen Betriebsmittel zu verhindern. Notstandsarbeiten sind Arbeiten, die die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Diensten und Gütern während eines Arbeitskampfes sicherstellen sollen. Dabei ist jeweils im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob zur Begrenzung der Auswirkungen eines Streiks Notdienstmaßnahmen erforderlich sind und wenn ja, in welchem Umfang.

Die Abwendung von finanziellen Schäden ist regelmäßig nicht ausreichend, um Notdienste zu rechtfertigen. Im Einzelfall kann es aber auch hier dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen, Notdienste einzurichten, um die wirtschaftliche Grundlage des Unternehmens zu sichern.

Während eines Streiks ist aber insbesondere sicherzustellen, dass streikbedingte Gefahren für Leib und Leben Dritter abgewendet bzw. verhindert werden.

Unternehmen der Daseinsvorsorge

Dies betrifft insbesondere Unternehmen der Daseinsvorsorge. Dabei werden unter Daseinsvorsorge typischerweise die Gesundheitsversorgung, Energie- und Wasserversorgung, Dienste der Feuerwehr, der Bestattung, Müll- und Abwasserentsorgung, Verkehr (Öffentlicher Personennahverkehr, Eisenbahnverkehr, Luftverkehr, Luftraumüberwachung, Seehäfen), Landesverteidigung und innere Sicherheit, Katastrophenschutz, Erziehungswesen und Kinderbetreuung, Kommunikationsinfrastruktur, sowie die Versorgung mit Bargeld und Zahlungsverkehr gefasst.

Unmittelbare Versorgungsunternehmen

Im Bereich des Gesundheitswesens sind Notdienste anerkannt. Denn hierbei geht es um den Schutz von Leib und Leben Dritter. In der Regel ist daher – wenn überhaupt – der Umfang der Notdienstarbeiten umstritten. Im Hinblick auf die Art der Gesundheitsgefahr wird von der Rechtsprechung vereinzelt verlangt, dass ohne Notdienstmaßnahmen irreparable Gesundheitsschäden eintreten müssten. Dies geht zu weit. Zum einen lässt sich häufig nicht im Vorhinein beurteilen, ob Gesundheitsschäden irreparabel sind. Zum anderen handelt es sich bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustands selbst bereits um einen relevanten Schaden, ganz unabhängig davon, ob sich dieser wieder beheben lässt oder nicht.

Auch die Wasser- und Energieversorgung einschließlich der Wärmeversorgung (zumindest im Winter) dürften zur Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern zählen, die Notdienste rechtfertigen.

Infrastrukturunternehmen

Zunehmend wird jedoch auch die Infrastruktur relevant. Dies betrifft zum Beispiel Verkehrsunternehmen: So ist etwa der Bahnverkehr aufrechtzuerhalten, soweit er der Krankenversorgung oder der Beförderung von Personen dient, die ansonsten keinerlei Mobilitätsmöglichkeit haben (LAG Berlin-Brandenburg 24.10.2007 – 7 SaGa 2044/07; LAG Sachsen 2.11.2007- 7 SaGa 19/07).

Aber auch die Sicherung einer funktionierenden IT-Infrastruktur dürfte Notdienste mindestens dort erforderlich machen, wo ansonsten eine Gefährdung von Leib und Leben Dritter vorläge. Dies wird über die IT in Krankenhäusern hinausgehen; denkbar ist z.B., dass Alarmsysteme wie die NINA-App, die Echtzeit-Warnungen bei gefährlichen Situationen ausgibt, Notdienste rechtfertigen.

Wichtig – rechtzeitige Vorbereitung von Notdiensten

Im Regelfall werden Notdienste zwischen dem Arbeitgeber und der Gewerkschaft vereinbart. Es bietet sich daher an, im Vorfeld mit der Gewerkschaft in einer sog. Notdienstvereinbarung festzulegen, welche Aufgaben zu welcher Zeit mit wie vielen Personen wahrgenommen werden müssen. Nicht abschließend geklärt ist allerdings die Frage, wer den Notdienst einzurichten und zu organisieren hat, wenn keine Vereinbarung zustande kommt. Sinnvoll kann es dann sein, eine gerichtliche Regelung des Notdienstes im Wege der einstweiligen Verfügung zu erwirken.

Zeichnet sich daher ab, dass es zu Streikmaßnahmen kommt und eine Einigung über Notdienste nicht sicher ist, sind Unternehmen gut beraten, gerichtliche Anträge frühzeitig vorzubereiten. Dabei kann beantragt werden, dass der Streik ohne Notdienste zu untersagen ist. Sinnvoller kann es allerdings sein, direkt die Einrichtung von spezifischen Notdiensten zu beantragen. Entscheidend dabei ist eine gute und stichhaltige Begründung, warum ein Notdienst in der beantragten Form erforderlich ist, und welche Gefahren drohen, wenn ein solcher Notdienst nicht eingerichtet wird. Pauschale Aussagen reichen hier regelmäßig nicht.

Dr. Kara Preedy, LL.M., lic.dr.

Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht
Partnerin
Dr. Kara Preedy berät nationale und internationale Unternehmen in allen Bereichen des Individual- und Kollektivarbeitsrechts sowie im Rahmen von gesellschaftsrechtlichen Transaktionen. Sie verfügt über umfassende Erfahrungen bei Restrukturierungen und Betriebsänderungen sowie im Rahmen von High-Level Exits. Zudem ist sie spezialisiert auf die Gestaltung und Implementierung von Arbeitsbedingungen, insbesondere Vergütungsmodellen und Compliance-Systemen. Dr. Kara Preedy hält regelmäßig Vorträge im In- und Ausland zu Fragen des deutschen und europäischen Arbeitsrechts.
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