Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) galt lange als sakrosankt. Winkte der Arbeitnehmer mit dem Gelben Schein, musste der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung leisten. Diese Stellung hat die AUB in den letzten Jahren eingebüßt. Im Jahr 2024 hat es eine Reihe von interessanten Einzelfallentscheidungen gegeben. Im Dezember 2024 hat das BAG in zwei Entscheidungen seine Rechtsprechung ausdrücklich bestätigt. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über das Thema und die aktuellen Entwicklungen. Arbeitgeber finden Empfehlungen, wie sie auf eine zweifelhafte Krankmeldung reagieren können.
Überblick
Zunächst gilt es mit dem Mythos AUB aufzuräumen: Eine AUB begründet keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit. Der Arbeitgeber muss also nicht das Gegenteil (die Arbeitsfähigkeit) beweisen.
Ausgangspunkt: Die AUB
Der Arbeitnehmer beweist seine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit in der Regel durch die Vorlage der AUB. Sie ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und daher wichtigste Beweismittel.
Einer ordnungsgemäß ausgestellten AUB kommt grundsätzlich ein hoher Beweiswert zu. Arbeitsgerichte sehen normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht an, wenn der Arbeitnehmer eine AUB vorlegt.
Welche Reaktionsmöglichkeit hat der Arbeitgeber?
Der Arbeitgeber kann sich nicht darauf beschränken, die Arbeitsunfähigkeit einfach nur mit Nichtwissen zu bestreiten.
Vielmehr muss er den Beweiswert der AUB erschüttern. Dazu muss er tatsächliche Umstände darlegen, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers wecken.
Den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich aus den Äußerungen des Arbeitnehmers, aus der AUB selbst oder den Umständen der Krankmeldung ergeben.
An den Vortrag des Arbeitgebers zur Erschütterung des Beweiswerts der AUB dürfen Gerichte keine überhöhten Anforderungen stellen. Sie müssen berücksichtigen, dass der Arbeitgeber nur über eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten verfügt. Allerdings reicht der pauschale Hinweis, bei der AUB handle es sich um ein Gefälligkeitsattest, nicht aus.
Praxishinweis: Arbeitgeber, die an der Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers zweifeln, sollten so viele und so konkrete Anhaltspunkte wie möglich für diese Zweifel zusammentragen. Bei ersten Anhaltspunkten, z.B. bei einem zeitlichen Zusammenhang zwischen einem unerfreulichen Personalgespräch und einer Krankmeldung, sollte weiter ermittelt werden. Wichtig sind Befragung von Vorgesetzten und eine ausführliche Dokumentation. Hat es in der Vergangenheit ähnliche Vorfälle gegeben, sollten Arbeitgeber diese in die Dokumentation einbeziehen.
Was passiert, wenn der Arbeitgeber den Beweiswert der AUB erschüttert hat?
Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der AUB zu erschüttern, tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er ohne eine AUB bestehen würde:
Es ist Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf die Arbeitsunfähigkeit zulassen. Vom Arbeitgeber wird hingegen nicht verlangt, nachzuweisen, dass irgendeine Erkrankung im Zeitpunkt der erfolgten Ankündigung einer künftigen Krankmeldung überhaupt nicht vorgelegen haben kann.
Der Arbeitnehmer muss zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben.
Praxishinweis: Dafür ist ausführlicher Vortrag erforderlich, an dem es vor Gericht häufig fehlt. Dieser Vortrag muss insbesondere Angaben dazu enthalten, an welchen Krankheiten der Arbeitnehmer gelitten hat, welche gesundheitlichen Einschränkungen damit verbunden waren und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden.
Es reicht nicht, wenn der Arbeitnehmer lediglich den behandelnden Arzt als Zeugen benennt und hofft, dieser bestätige die Arbeitsunfähigkeit.
Es reicht nicht, wenn der Arbeitnehmer ärztliche Diagnosen offengelegt. Er muss konkrete gesundheitliche Einschränkungen, die diesen Diagnosen entsprechen, vortragen und deren Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit konkretisieren.
Es reicht nicht, wenn der Arbeitnehmer vorträgt, bestimmte Beschwerden hätten sich nicht gebessert. Er muss ausführen, welche Beschwerden genau in welcher Frequenz und Intensität bestanden.
Erst wenn der Arbeitnehmer insoweit einer Substantiierungspflicht nachgekommen ist und gegebenenfalls seine ihn behandelnden Ärzte von der Schweigeplicht entbunden hat, muss der Arbeitgeber aufgrund der ihm obliegenden Beweislast den konkreten Sachvortrag des Arbeitnehmers entkräften.
Möglichkeiten zur Erschütterung des Beweiswerts der AUB
275 Abs. 1a SGB V enthält Regelbeispiele, wann Zweifel an der AUB angebracht sind:
-
- Der Arbeitnehmer ist auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig.
- Der Beginn der Arbeitsunfähigkeit fällt häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche.
- Ein Arzt hat die Arbeitsunfähigkeit festgestellt, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.
Der Arbeitgeber ist aber nicht auf diese Regelbeispiele beschränkt. Er kann den Beweiswert der AUB auch auf andere Weise erschüttern. Die folgenden Möglichkeiten gewinnen zunehmend an Bedeutung:
Verstoß gegen die AUB-Richtlinie
Die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie legt fest, welche Regeln für die Feststellung und Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit von Versicherten durch Vertragsärzte gelten.
Es erschüttert den Beweiswert einer AUB, wenn der ausstellende Arzt gegen bestimmte Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie verstößt.
Es bestehen unterschiedliche Ansatzpunkte für Verstöße gegen die AUB-Richtlinie:
- Findet keine ausreichende Befragung zum Arbeitsplatz statt, ist der Beweiswert der AUB erschüttert: Die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit setzt die Befragung zur aktuell ausgeübten Tätigkeit und den damit verbundenen Anforderungen und Belastungen voraus. Das Ergebnis der Befragung ist bei der Beurteilung von Grund und Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen. Unterbleibt diese, ist der Beweiswert erschüttert. Da der Arbeitgeber bei der Befragung nicht anwesend war, kann er mit Nichtwissen bestreiten, dass diese stattgefunden hat. Der Arbeitnehmer muss dazu ausführen.
- Bei einer rückdatierten AUB ist deren Beweiswert erschüttert: Die Arbeitsunfähigkeit soll für eine vor der ersten ärztlichen Inanspruchnahme liegende Zeit grundsätzlich nicht bescheinigt werden. Eine Rückdatierung des Beginns der Arbeitsunfähigkeit auf einen vor dem Behandlungsbeginn liegenden Tag ist ebenso wie eine rückwirkende Bescheinigung über das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit nur ausnahmsweise und nur nach gewissenhafter Prüfung und in der Regel nur bis zu drei Tagen zulässig.
- Eine für mehr als zwei Wochen ausgestellte AUB verstößt gegen die AUB-Richtlinie: Die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit soll nicht für einen mehr als zwei Wochen im Voraus liegenden Zeitraum bescheinigt werden.
Arbeitsunfähigkeit nach Urlaubsantrag
Zweifel an dem Beweiswert der AUB ergeben sich, wenn diese für einen Zeitraum ausgestellt worden ist, für den der Arbeitnehmer zuvor Urlaub begehrt hat.
Das gilt auch dann, wenn der Konflikt über die Urlaubsgewährung mehrere Wochen zurückliegt.
Arbeitsunfähigkeit nach Kündigung
Eine typische Situation: Der Arbeitnehmer meldet sich nach einer Kündigung krank.
- Wenn der Arbeitnehmer bei Übergabe des Kündigungsschreibens keine äußerlich erkennbaren Krankheitssymptome zeigt und eine besondere psychische Belastungssituation mit der Kündigungsübergabe nicht verbunden war, sind Zweifel an der AUB angebracht.
- Ein gegen den Beweiswert sprechender Umstand kann darin liegen, dass zwischen der durch Folgebescheinigungen festgestellten Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist ein zeitlicher Zusammenhang besteht.
Diese Rechtsprechung zur sog. Zeitlichen Koinzidenz hat das BAG in zwei aktuellen Urteilen (5 AZR 248/23 und 5 AZR 29/24) bestätigt:
Eine den Beweiswert erschütternde zeitliche Koinzidenz besteht, wenn der Arbeitnehmer einen später umgesetzten Kündigungsentschluss fasst, diesen – z.B. durch das Verfassen eines Kündigungsschreibens – manifestiert und im Anschluss daran Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorlegt.
Es spielt keine Rolle, ob die Kündigung dem Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Krankschreibung bereits zugegangen ist. Genauso unerheblich ist, ob der Arbeitnehmer die Kündigung bereits zugegangen ist oder er nur Kenntnis der drohenden Kündigung hat. Maßgeblich ist, dass der Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, zu dem feststeht, dass das Arbeitsverhältnis enden soll, arbeitsunfähig wird und bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bleibt.
Für die Erschütterung des Beweiswerts ist nicht erforderlich, dass der Arbeitnehmer die Kündigung und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung „zeitgleich“ übergibt. Liegt zwischen der Übergabe der Eigenkündigung nach Beendigung der Arbeit und dem Fernbleiben von der Arbeit nur das ohnehin arbeitsfreie Wochenende, besteht eine zeitliche Koinzidenz, die den Beweiswert erschüttert.
- Für die Beurteilung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Zusammenhang mit Kündigungen ist nicht entscheidend, ob für die Dauer der Kündigungsfrist eine oder mehrere Bescheinigungen vorgelegt werden.
- Endet die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit punktgenau mit dem Ablauf der Kündigungsfrist, ist deren Beweiswert erschüttert.
Auch unabhängig von Kündigungen weckt ein zeitlicher Zusammenhang zwischen unliebsamen Weisungen, Abmahnungen oder problematischen Personalgesprächen und einer Krankmeldung Zweifel an der AUB.
Sport während der Arbeitsunfähigkeit
Was das Ausüben von Freizeitsport während der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit angeht, ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. In derartigen Fällen sollte angesichts der ungünstigen Beweissituation, in der der Arbeitgeber sich ohnehin befindet, nicht zu restriktiv entschieden werden.
Zweifel sind angebracht, wenn der Arbeitnehmer wettkampfmäßig Sport betreibt – selbst, wenn es sich um Amateurniveau handelt – und keine Erläuterungen abgibt, weshalb seine Aktivitäten mit einer Arbeitsunfähigkeit vereinbar gewesen sein sollen.
Begutachtung durch den medizinischen Dienst der Krankenkasse nicht erforderlich
Der Beweiswert der AUB kann auch dann erschüttert werden, wenn der Arbeitgeber nicht von der Möglichkeit zur Begutachtung des Arbeitnehmers durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen Gebrauch gemacht hat. Nach § 275 Absatz 1a Satz 3 SGB V kann der Arbeitgeber verlangen, dass die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes zur Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit einholt. Das Ausbleiben eines solchen Verlangens schließt aber eine gerichtliche Auseinandersetzung über den Beweiswert der AUB nicht aus.
Vorsicht beim Einsatz von Detektiven
Im Juli 2024 hatte das Bundesarbeitsgericht über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer wegen des Verdachts einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit durch eine Detektei überwachen ließ. Im konkreten Fall entschied das BAG, dass die Überwachung unzulässig, weil nicht erforderlich war, denn am Beweiswert der AUB bestanden keine Zweifel.
Man könnte das Urteil so verstehen, als könnten Zweifel am Beweiswert einer AUB eine Überwachung durch einen Detektiv rechtfertigen. Das BAG hat diese Frage aber ausdrücklich offengelassen. Angesichts der strengen Vorgaben der DSGVO und der unklaren Umsetzung dieser Vorgaben im BDSG sollte auf eine Observation des Arbeitnehmers grundsätzlich verzichtet werden.
Handlungsmöglichkeiten
Blaumachen ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein strafbarer Betrug. Eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit rechtfertigt regelmäßig eine ordentliche und sogar außerordentliche Kündigung des Arbeitnehmers. Zu welcher Maßnahme Arbeitgeber greifen sollten, ist eine taktische Frage, die genau geprüft werden sollte.
Übersicht über unsere Blog-Beiträge zum Thema Arbeitsunfähigkeit
Wir halten Sie regelmäßig zum Thema Arbeitsunfähigkeit auf dem Laufenden. Hier eine Übersicht über unsere aktuellen Blog-Beiträge:
- AU-Bescheinigung ab Tag 1 – wann besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats?
- Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach Kündigung
- Arbeitsunfähigkeit nur vorgetäuscht? Was Arbeitgeber bei zweifelhaften Krankmeldungen machen können
- Krankschreibung nach Eigenkündigung – Beweiswert erschüttert?
- Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach Kündigung – eine Never Ending Story
- Verstoß gegen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie – Beweiswert erschüttert?
- Entgeltfortzahlung bei Fortsetzungserkrankung des Arbeitnehmers – die Beweislast des Arbeitgebers unter der Lupe
- Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert – wie geht es weiter?