Die Arbeit in der Lieferbranche ist größtenteils digitalisiert und Betriebsabläufe lassen sich zu großen Teilen über Apps organisieren. Das Branchenumfeld ist hart umkämpft und nicht selten wird über Arbeitsbedingungen debattiert. Wenig überraschend verbreitet sich derzeit in den Medien rasant eine erstinstanzliche Ausreißerentscheidung des ArbG Aachen, wonach Auslieferungsfahrer in einem Liefergebiet einen Betriebsrat wählen dürfen. Was jedoch nicht erwähnt wird: Zwei Landesarbeitsgerichte und fünf Arbeitsgerichte sehen es komplett anders. Medial machte aber trotzdem die „Ausreißerentscheidung“ aus Aachen die große Runde.
ArbG Aachen fingiert Rechtsfortbildung des BAG
Das ArbG Aachen geht in seinem Beschluss vom 23. April 2024 – 2 BV 56/23 unzutreffend davon aus, dass Auslieferungsfahrer, die mit Hilfe einer App in einem abgegrenzten Liefergebiet tätig sind, einen eigenen Betriebsrat wählen können. Das Weisungsrecht müsse nicht von einer Person „vor Ort“ ausgeübt werden. Es reiche aus, dass die Leitungsmacht über eine App im Liefergebiet wirke.
Den Pressemeldungen lässt sich jedoch nicht entnehmen, wie das ArbG Aachen zu dieser Überraschungsentscheidung gekommen ist:
Das ArbG Aachen fingierte einen Rechtsprechungswandel des BAG den es gar nicht gab.
Das ArbG Aachen geht davon aus, dass das BAG „früher“ eine Formulierung verwendet habe, wonach „in der Einheit eine Person mit Leitungsmacht vorhanden“ sein müsse. Nun habe sich die Formulierung des BAG „gewandelt“ und es reiche aus, wenn „überhaupt eine den Einsatz der Arbeitnehmer bestimmende Leitung institutionalisiert“ sei.
Die beiden Formulierungen werden jedoch seit über 20 Jahren unverändert vom BAG genutzt. Während der 1. Senat des BAG weiterhin die angeblich „frühere“ Formulierung benutzt, greift der 7. Senat seit Jahrzehnten auf die vermeintlich „neue“ Formulierung zurück. Die Senate verweisen unverändert gegenseitig auf den jeweils anderen. Eine angebliche Rechtsfortbildung lässt sich hierin gewiss nicht erkennen.
ArbG Aachen ignorierte mehrere gleichgelagerte Entscheidungen
Das ArbG Aachen fingierte nicht nur eine Rechtsfortbildung des BAG. Es ignorierte sogar fünf (!) erstinstanzliche Entscheidungen anderer Arbeitsgerichte, die einen gleichgelagerten Sachverhalt desselben Arbeitgebers betrafen:
- ArbG Hamburg vom 28. Januar 2024 – 17 BV 1/23
- ArbG Frankfurt am Main vom 22. Januar 2024 – 2 BV 66/23
- ArbG Kiel vom 23. November 2023 – 3 BV 18 a/23
- ArbG Hannover vom 6. September 2023 – 3 BV 1/23
- ArbG Darmstadt vom 26. August 2021 – 10 BV 2/21
Keines dieser Arbeitsgerichte vertrat die Auffassung des ArbG Aachen. Vielmehr forderten sie ausdrücklich, dass in Liefergebieten eben doch eine Person mit Leitungsmacht „vor Ort“ notwendig sei, um einen Betriebsrat wählen zu dürfen.
Landesarbeitsgerichte lehnen Rechtsfortbildung ab
Das LAG Niedersachsen (Beschl. v. 30.5.2024 – 5 TaBV 84/23) erteilte der Entscheidung des ArbG Aachen eine deutliche Absage. Auf eine Person „vor Ort“, die mit bestimmten Leitungsfunktionen ausgestattet ist und diese gegenüber Kurieren ausübt, könne nicht verzichtet werden. Eine Abweichung vom „klassischen“ Betriebsbegriffs würde zu einem Verlust „jedweder Konturen“ führen. Das LAG Niedersachsen sah daher keinen Grund dem ArbG Aachen zu folgen.
Auch das LAG Schleswig-Holstein (Beschl. v. 7.8.2024 – 6 TaBV 20/23) bestätigte dies in einem gleichgelagerten Fall und stellte sich bewusst gegen das ArbG Aachen.
Praxishinweis
Die Pressemeldungen zur Entscheidung des ArbG Aachen vermitteln einen falschen Eindruck von der Rechtslage. Es handelt sich um eine Ausreißerentscheidung, die sich gegen bundesweit ergangene Entscheidungen stellt und von den Landesarbeitsgerichten teilweise sogar als „Überinterpretation“ der BAG-Rechtsprechung bezeichnet wird.
Entsprechende Gestaltungsspielräume bei der Betriebsstruktur bestehen weiterhin, sodass der physische Einsatzort des Leitungspersonals eine entscheidende Rolle einnimmt.
Arbeitgeber sollten daher weiterhin eine Wahlanfechtung in Erwägung ziehen, wenn ein Betriebsrat an einem Ort ohne jede Leitungsmacht gewählt und damit der Betriebsbegriff verkannt wird.
Die nicht rechtskräftige Entscheidung des ArbG Aachen sollte daher nicht überbewertet werden. Das LAG Köln oder spätestens das BAG werden die Überraschungsentscheidung des ArbG Aachen demnächst korrigieren.