Da einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) ein hoher Beweiswert zukommt, sind die Anforderungen an den Arbeitgeber zur Erschütterung dieses Beweiswerts hoch. Ist diese Hürde aber erst einmal überwunden, trifft den Arbeitnehmer ebenfalls eine beachtliche Darlegungs- und Beweislast. Arbeitgeber sollten sich daher der Darlegungs- und Beweislastverteilung im Prozess hinreichend bewusst werden, um bei Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit den Einzelfall und die Erfolgsaussichten der Verteidigung der eigenen Rechtsposition richtig einschätzen zu können.
Der Themenkomplex zur Erschütterung des Beweiswerts von AU-Bescheinigungen, insbesondere solchen, die nach einer Kündigung ausgestellt werden und den Zeitraum der Kündigungsfrist abdecken, wird seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 8. September 2021 (5 AZR 149/21) in den unterschiedlichsten Sachverhaltskonstellationen von den Arbeitsgerichten behandelt. Das ist nicht verwunderlich: Schließlich kann eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers weitreichende arbeitsrechtliche Konsequenzen haben und den Arbeitgeber sogar ggfs. zur außerordentlichen Kündigung berechtigen.
Eine aktuelle Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern liefert jedoch besonders eindrücklich praktische Hinweise für die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast und die Anforderungen an den relevanten substantiierten Vortrag.
Worum ging es in dem Fall des LAG Mecklenburg-Vorpommern?
Die Entscheidung des Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern vom 7. Mai 2024 (5 Sa 98/23) reiht sich in die Vielzahl der arbeitsgerichtlichen Entscheidungen zu diesem Thema ein. Der Arbeitnehmer war von Oktober bis Dezember 2022 mehrfach arbeitsunfähig erkrankt, was ihm sein Arzt bescheinigte. Unmittelbar nach seiner Arbeitsunfähigkeit übergab er seine Kündigung mit Wirkung zum 15. Januar 2023. Am darauffolgenden Tag war er erneut von seinem Hausarzt (zunächst bis 6. Januar 2023) bis einschließlich 16. Januar 2023 krankgeschrieben worden. Die vom Arzt in diesem Zusammenhang verschriebene Medikation hatte der Arbeitnehmer nicht eingenommen. Das LAG Mecklenburg-Vorpommern entschied, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sei und verwies dabei insbesondere auf die Entscheidung des BAG vom 13. Dezember 2023 (siehe hierzu unseren Blogbeitrag vom 8. Januar 2024).
Darlegungs- und Beweislast beim Arbeitnehmer
Gelingt es – wie im vorliegenden Fall – dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen AU-Bescheinigung zu erschüttern, tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Nach dem LAG Mecklenburg-Vorpommern sei der Arbeitgeber nicht bereits wieder darlegungs- und beweisbelastet, wenn der Arbeitnehmer die ärztlichen Diagnosen vorlege. Das Gericht forderte vielmehr vom Arbeitnehmer,
- konkrete gesundheitliche Einschränkungen, die diesen Diagnosen entsprechen, vorzutragen und
- deren Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bezogen auf die konkret geschuldete Tätigkeit
Diesen Vortrag konnte der Arbeitnehmer nicht einmal laienhaft leisten, sodass der Arbeitgeber im Prozess obsiegte.
Fazit
Ist der „Aufschlag“ des Arbeitgebers zur Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung erst einmal geglückt, kann es dem Arbeitnehmer schwer fallen, das Gegenteil darzulegen und diesen „Ball zu retournieren“. Die Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern zeigt, mit welcher Verteidigungslinie des Arbeitnehmers Arbeitgeber in diesem Zusammenhang zu rechnen haben.
Haben Arbeitgeber daher ernstliche Zweifel an der Krankschreibung des Arbeitnehmers, kann es sich durchaus anbieten, sich (notfalls gerichtlich) dagegen zur Wehr zu setzen. In diesem Zuge sollten sich Arbeitgeber den an sie gestellten Anforderungen zur Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung, aber auch über den erforderlichen (Gegen-)Vortrag des Arbeitnehmers bewusst werden, um den konkreten Einzelfall richtig einschätzen zu können.