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Personelle Einzelmaßnahmen nach § 99 BetrVG – auf die rechtzeitige Unterrichtung kommt es an

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Bei personellen Einzelmaßnahmen wie Einstellung und Versetzung ist der Betriebsrat nach § 99 Abs. 1 BetrVG zu beteiligen. Gerade im Rahmen der Durchführung von Reorganisationen kann es vorkommen, dass Arbeitnehmern Aufgabenbereiche zugewiesen und diese dadurch versetzt werden, ohne dass der Betriebsrat nach § 99 BetrVG beteiligt wurde. Wie sich derartige Konstellationen richtig „heilen“ lassen, wird anhand einer aktuellen Entscheidung des BAG aufgezeigt.

In Unternehmen mit in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern hat der Arbeitgeber nach § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG den Betriebsrat vor jeder Einstellung, Ein- oder Umgruppierung und Versetzung zu unterrichten sowie die Zustimmung zu dieser Maßnahme einzuholen (siehe hierzu auch unseren Blogbeitrag vom 3. Mai 2022).

Im Rahmen der Durchführung von Reorganisationen ist dabei besonders die Unterrichtungsverpflichtung bei Versetzungen relevant. Eine Versetzung liegt nach § 95 Abs. 3 S. 1 BetrVG vor, wenn ein anderer Arbeitsbereich zugewiesen wird und die Zuweisung für eine längere Zeit als einen Monat erfolgt oder mit einer erheblichen Änderung der Umstände verbunden ist, unter denen die Arbeit zu leisten ist. Bereits diese Legaldefinition zeigt, dass eine rechtlich relevante und damit das Beteiligungsrecht des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1 BetrVG auslösende Versetzung rein faktisch eintreten kann, wenn einem Arbeitnehmer andere Funktionen zugewiesen werden.

Sachverhalt

In dem vom BAG am 10. Oktober 2022 (1 ABR 18/21) entschiedenen Fall wies die Arbeitgeberin im Rahmen einer Umgestaltung ihrer Betriebsorganisation dem bisherigen Leiter der Abteilung Zielgruppenintelligenz ab dem 25. Mai 2018 die Position des Leiters der von ihr neu eingerichteten Abteilung Quality Services Dialogmarketing zu. Den Betriebsrat beteiligte sie zuvor nicht. Auf dessen Antrag nach § 101 BetrVG trug das Arbeitsgericht der Arbeitgeberin auf, die Maßnahme aufzuheben.

Am 10. Januar 2020 teilte die Arbeitgeberin dem Betriebsrat mit, sie nehme die Versetzung des betroffenen Mitarbeiters zurück. Gleichzeitig bat sie den Betriebsrat um Zustimmung zur beabsichtigten erneuten Versetzung des Mitarbeiters auf die Stelle des Leiters der Abteilung Quality Services Dialogmarketing. Zudem teilte sie dem Betriebsrat mit, dass sie diese Versetzung vorläufig durchführen werde. Der Betriebsrat verweigerte seine Zustimmung fristgerecht.

Die Arbeitgeberin leitete ein Zustimmungsersetzungsverfahren ein und beantragte, festzustellen, dass die vorläufige Durchführung der Versetzung aus sachlichen Gründen dringend erforderlich war. Das ArbG wies die Anträge ab. Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin hin gab das LAG den Anträgen statt.

Die Entscheidung des BAG

Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats hatte vor dem BAG Erfolg. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass der Zustimmungsersetzungsantrag nach § 99 Abs. 4 BetrVG unbegründet ist, da die Arbeitgeberin das Zustimmungsverfahren am 10. Januar 2020 nicht ordnungsgemäß eingeleitet hatte.

Voraussetzung für die gerichtliche Zustimmungsersetzung nach § 99 Abs. 4 BetrVG sei eine ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrats durch den Arbeitgeber. Nur diese setze die Frist für die Zustimmungsverweigerung nach § 99 Abs. 3 S. 1 BetrVG in Lauf. Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG habe der Arbeitgeber den Betriebsrat „vor“ der personellen Maßnahme zu unterrichten und die Zustimmung zu der „geplanten“ Maßnahme einzuholen. Die Unterrichtung des Betriebsrats müsse zu einer Zeit erfolgen, in der eine getroffene Entscheidung zumindest noch ohne Schwierigkeiten revidiert werden könne. Eine Unterrichtung des Betriebsrats, die erst nach einer – zustimmungsbedürftigen – Zuweisung eines anderen Arbeitsbereichs erfolgt, sei daher nicht fristgerecht und damit nicht ordnungsgemäß iSv. § 99 Abs. 1 BetrVG.

Vor diesem Hintergrund kam das BAG vorliegend zu dem Ergebnis, dass die Versetzung des Mitarbeiters bereits zum 25. Mai 2018 endgültig durchgeführt worden war. Das nachträgliche Zustimmungsersuchen oder die bloße Mitteilung der Arbeitgeberin, sie nehme die Versetzung „zurück“ und diese erfolge ab sofort nur noch „vorläufig“, seien unzureichend, um einen neues Beteiligungsverfahren nach § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG ordnungsgemäß einzuleiten.

Praxishinweis

Der Arbeitgeberin wurde im vorliegenden Fall zum Verhängnis, dass sie zwar dem Betriebsrat mitgeteilt hatte, dass sie die Versetzung des Arbeitnehmers zurücknehme, dies jedoch nicht tatsächlich umsetzte. Stattdessen beließ sie den Arbeitnehmer auf seinem Arbeitsplatz und leitete nahtlos ein Beteiligungsverfahren nach §§ 99, 100 BetrVG ein.

Richtigerweise hätte die Arbeitgeberin die personelle Maßnahme tatsächlich aufheben, d.h. den Arbeitnehmer bis zur Einleitung des neuen Beteiligungsverfahrens tatsächlich nicht als Leiter der Abteilung Quality Services Dialogmarketing beschäftigen dürfen. Erforderlich ist insoweit ein dokumentiertes, von außen nachvollziehbares tatsächliches Abstandnehmen von der ursprünglichen personellen Maßnahme. Hinzunehmen ist dabei auch, dass bspw. eine Beschäftigung auf dem bisherigen Arbeitsplatz unmöglich ist oder betriebliche Regelungen die interne Ausschreibung des zu besetzenden Arbeitsplatzes verlangen.

Mit freundlicher Unterstützung unserer Referendarin Michelle Kiehlmann.

Ferdinand Groß

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Partner
Ferdinand Groß berät Unternehmen insbesondere im Betriebsverfassungsrecht und begleitet bei Restrukturierungen, Fremdpersonaleinsatz und der Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist die Vertretung von Unternehmen in Einigungsstellenverfahren und arbeitsgerichtlichen Prozessen. Er ist Mitglied der Fokusgruppe "Arbeitszeit und Arbeitszeiterfassung".
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