Muss einem Arbeitnehmer, dem aufgrund einer Infektion mit dem Coronavirus behördlich Quarantäne angeordnet wurde, der Urlaub für diese Zeit nachgewährt werden? Mit dieser Frage mussten sich Arbeitsgerichte zuletzt vermehrt auseinandersetzen. Das BAG rief diesbezüglich kürzlich den EuGH an. Zwischenzeitlich hat jedoch der Gesetzgeber eingegriffen und die Frage durch Änderung des Infektionsschutzgesetzes selbst geregelt.
Keine analoge Anwendung von § 9 BUrlG
In der bisherigen Rechtsprechung wurde eine Nachgewährung von Urlaubstagen im Fall einer behördlich angeordneten Quarantäne ohne ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit überwiegend abgelehnt. Die Gerichte entschieden mehrheitlich, dass die Voraussetzungen des § 9 BUrlG nicht erfüllt seien und eine analoge Anwendung nicht in Betracht komme (vgl. hierzu schon unseren Blogbeitrag vom 10.08.2021). Das LAG Hamm vertrat allerdings die gegenteilige Rechtsauffassung (vgl. Urteil v. 27.01.2022 – 5 Sa 1030/21). Es bejahte eine analoge Anwendung des § 9 BUrlG und sprach dem klagenden Arbeitnehmer die Nachgewährung des Jahresurlaubs zu (vgl. hierzu unseren Blogbeitrag vom 21.03.2022).
Vorlage an den EuGH
Daraufhin hatte sich das BAG mit der Frage zu beschäftigen. Der Neunte Senat legte die Sache dem EuGH vor (vgl. Beschluss v. 16.08.2022 – 9 AZR 76/22). Es sei entscheidungserheblich, ob es mit Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Einklang stehe, wenn vom Arbeitnehmer beantragter und vom Arbeitgeber bewilligter Jahresurlaub, der sich mit einer nach Urlaubsbewilligung angeordneten häuslichen Quarantäne zeitlich überschneidet, nach nationalem Recht nicht nachzukommen ist, weil der betroffene Arbeitnehmer selbst nicht krank war. Der Neunte Senat folgt damit wohl nicht der Auffassung des LAG Hamm. Der Vorlagebeschluss gibt zu erkennen, dass der Senat die analoge Anwendung von § 9 BUrlG ablehnt. Er sieht stattdessen Klärungsbedarf darin, ob die Anrechnung der Quarantänetage auf den Jahresurlaub nach nationalem Recht mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Hätte sich der Senat der Auffassung des LAG Hamm angeschlossen, wäre die Frage im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nicht entscheidungserheblich gewesen. Die Entscheidung des EuGH zu dieser Frage steht bisher noch aus.
Das COVID-19-Schutzgesetz: Der Gesetzgeber kommt dem EuGH zuvor
Zwischenzeitlich hat sich jedoch der Gesetzgeber eingeschaltet und die Frage der Anrechenbarkeit der Quarantänetage auf den Jahresurlaub durch den neuen § 59 Abs. 1 IfSG geregelt. Das Bundeskabinett hat am 24. August 2022 nach Vorlage des Bundesgesundheitsministers sowie des Bundesjustizministers eine Formulierungshilfe zum Entwurf des Gesetzes zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19 beschlossen. Der darin geregelte § 59 Abs. 1 IfSG stellt klar, dass die Quarantäne-Zeit nicht auf den Jahresurlaub angerechnet wird. Am 17. September 2022 trat das Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19 und damit auch der neue § 59 IfSG in Kraft:
§ 59 Abs. 1 IfSG:
Wird ein Beschäftigter während seines Urlaubs nach § 30, auch in Verbindung mit § 32, abgesondert oder hat er sich auf Grund einer nach § 36 Absatz 8 Satz 1 Nummer 1 erlassenen Rechtsverordnung abzusondern, so werden die Tage der Absonderung nicht auf den Jahresurlaub angerechnet.
Damit ist der Gesetzgeber dem EuGH zuvorgekommen.
Praxishinweise
Mit der Neuregelung schafft der Gesetzgeber Klarheit über die bislang unsichere Rechtslage – zu Lasten der Unternehmen. Diese müssen Urlaubstage, die Arbeitnehmer in Quarantäne oder Isolation verbringen müssen, nun nachgewähren. Diese Pflicht ist dabei nicht nur auf eine Quarantäne oder Isolation wegen einer Infektion mit dem Coronavirus beschränkt, sondern gilt für alle Infektionen, die eine Absonderungspflicht nach dem IfSG nach sich ziehen. Die Neuregelung kann damit künftig zu längeren Personalausfällen führen, wenn Quarantäne- und Isolationspflichten in die Zeit des Jahresurlaubs der Arbeitnehmer fallen. Unternehmen müssen dies bei ihrer Personalplanung vor dem Hintergrund steigender Infektionszahlen berücksichtigen.
Die Nachgewährung von Urlaubstagen betrifft jedoch nur Fälle seit dem 17. September 2022. Eine Rückwirkung ist in § 59 Abs. 1 IfSG nicht vorgesehen. Für Nachgewährungsansprüche bis zum Inkrafttreten des Gesetzes gilt weiterhin die alte Rechtslage. Unternehmen haben für diesen Zeitraum damit weiterhin die Option, Ansprüche auf Nachgewährung des Urlaubs abzulehnen. Dabei müssen sie jedoch die bis zur Entscheidung des EuGH unsichere Rechtslage einkalkulieren. Es ist nicht auszuschließen, dass der EuGH die deutsche Rechtslage für unvereinbar mit dem Unionsrecht hält. Unternehmen, die Nachgewährungsansprüche ablehnen, müssen sich daher auf potenzielle Arbeitnehmerklagen einstellen.
Mit freundlicher Unterstützung unseres wissenschaftlichen Mitarbeiters David Becker.