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Betriebsratswahl 2022 ESG Neueste Beiträge

Die Anerkennung des dritten Geschlechts und die Auswirkungen auf die Betriebsratswahl

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Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das dritte Geschlecht neben dem männlichen und weiblichen Geschlecht im Geburtenregister zu berücksichtigen, hat auch im Arbeitsrecht hohe Wellen geschlagen. Im Fokus der Diskussion stand bisher überwiegend die Ausgestaltung von Stellenausschreibungen. Doch auch das Thema Betriebsratswahl wird durch die Anerkennung des dritten Geschlechts tangiert.

Ebenso wie in vielen anderen Bereichen wird bei Betriebsratswahlen der Aspekt der gleichberechtigten Teilhabe berücksichtigt. Eine Berücksichtigung des in der Minderheit befindlichen Geschlechts regelt die Minderheitenquote, die in § 15 Abs. 2 BetrVG zu finden ist. Das Gesetz schreibt vor, dass das Geschlecht, das in der Belegschaft in der Minderheit ist, mindestens entsprechend seinem zahlenmäßigen Verhältnis im Betriebsrat vertreten sein muss, wenn dieser aus mindestens drei Mitgliedern besteht. Für die Praxis bedeutet dies, dass der Wahlvorstand festzustellen hat, welches Geschlecht (bisher: Männer oder Frauen) im Betrieb in der Minderheit ist.

Maßgeblich ist hierbei die tatsächliche Anzahl aller Arbeitnehmer im Betrieb zum Zeitpunkt des Erlasses des Wahlausschreibens. Im Anschluss ist die Mindestsitzzahl für das in der Minderheit befindliche Geschlecht (bisher entweder Frauen oder Männer) nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zu ermitteln. Die Berechnung wird nach dem d’Hondtschen Verfahren durchgeführt: Hierbei sind die Zahlen der im Betrieb beschäftigten Frauen und Männer gegenüberzustellen. Sodann werden sie der Reihe nach so lange durch 1, 2, 3, 4, usw. geteilt, wie Höchstzahlen entstehen, denen die zu vergebenden Betriebsratsmandate zugeteilt werden können.

Beispiel: In einem Betrieb mit 150 Arbeitnehmern ist ein 7-köpfiger Betriebsrat zu wählen. Im Betrieb sind 110 Männer und 40 Frauen beschäftigt.

110 Männer 40 Frauen
110 : 1 = 110 (Höchstzahl 1) 40 : 1 = 40 (Höchstzahl 3)
110 : 2 = 55 (Höchstzahl 2) 40 : 2 = 20 (Höchstzahl 7)
110 : 3  = 36,6 (Höchstzahl 4) 40 : 3 = 13,3
110: 4 = 27, 5 (Höchstzahl 5) 40 : 4 = 10
110 : 5 = 22 (Höchstzahl 6) 40 : 5 = 8

Frauen erhalten demnach zwei Mindestsitze, da zwei Höchstzahlen auf Frauen entfallen. Sofern nicht zwei Frauen aufgrund des Wahlergebnisses in den Betriebsrat einziehen, müsste die Sitzverteilung im Nachhinein korrigiert werden, damit das Geschlecht in der Minderheit im Betriebsrat ausreichend repräsentiert wird.

Schwierigkeiten durch die Anerkennung des dritten Geschlechts

Angesichts der grundsätzlichen Anerkennung des dritten Geschlechts stellt sich die Frage, ob dies auch Auswirkungen hinsichtlich der Berücksichtigung des Minderheitengeschlechts gem. § 15 Abs. 2 BetrVG mit sich bringt. Der Gesetzgeber hat im BetrVG bisher noch keine Gesetzesänderung vorgenommen und legt demzufolge noch die binäre Geschlechterordnung zugrunde. Dies zeigt sich vor allem daran, dass der Gesetzgeber an mehreren Stellen des BetrVG ausdrücklich nur „Männer und Frauen“ als Geschlechter nennt (vgl. §§ 16 Abs. 1 S. 4, 43 Abs. 2 S. 3, 45 S. 1 oder 53 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG).

Rechtsunsicherheiten ergeben sich jedoch dahingehend, ob und wie das dritte Geschlecht aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten Berücksichtigung finden muss. Rechtsprechung existiert hierzu nicht, weil das Thema bei den letzten turnusgemäßen Betriebsratswahlen noch keine Aufmerksamkeit hatte. In der Fachliteratur werden dazu die folgenden Meinungen vertreten: (i) das gesetzliche Verständnis der binären Geschlechterordnung sei nach wie vor maßgeblich und die Entscheidung des BVerfG hinsichtlich § 15 Abs. 2 BetrVG ohne Auswirkung; (ii) Berücksichtigung als Minderheitengeschlecht erst, wenn aufgrund seines zahlenmäßigen Verhältnisses in der Belegschaft mindestens ein Betriebsratssitz auf das dritte Geschlecht entfällt (was fast nie der Fall sein dürfte), und (iii) Zusammenrechnung der zwei zahlenmäßig kleinsten Geschlechter zu einem Minderheitsgeschlecht.

Zuzustimmen ist den beiden letztgenannten Meinungen darin, dass das dritte Geschlecht aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten bei der Ermittlung des Minderheitengeschlechts zu berücksichtigen ist. Streng auf dem binären Verständnis des historischen Gesetzgebers und dem Wortlaut des BetrVG zu beharren, verkennt die Tatsache, dass das Grundgesetz und damit Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 3 GG über dem einfachen Recht – also dem BetrVG – stehen. Art. 3 Abs. 3 GG verbietet jegliche geschlechtsbezogene Benachteiligung. Demgemäß muss auch das dritte Geschlecht bei der Sitzverteilung berücksichtigt werden.

Ob das Minderheitengeschlecht jedoch ohne gesetzliche Grundlage kumuliert werden darf, erscheint zweifelhaft. Diese Vorgehensweise kann – wie bereits geschildert – zu einer Überrepräsentation des dritten Geschlechts zulasten des anderen Minderheitengeschlechts (in der Regel das weibliche Geschlecht) im Betriebsrat führen. Sinn und Zweck der Implementierung des § 15 Abs. 2 BetrVG war jedoch seinerzeit die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, welche der Gesetzgeber gem. Art. 3 Abs. 2 GG nachzukommen hat. In seiner Entscheidung zum dritten Geschlecht stellte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich fest, dass durch die Anerkennung eines dritten Geschlechts kein Widerspruch zu Art. 3 Abs. 2 GG entsteht. Somit besteht weiterhin hinsichtlich von Männern und Frauen ein Gleichstellungsgebot, hinsichtlich des dritten Geschlechts „lediglich“ ein Diskriminierungsverbot. Die Berücksichtigung von weiblichen und diversen Personen „in einem Topf“ und die damit verbundene mögliche Unterrepräsentation von weiblichen Personen steht in einem Spannungsverhältnis zum Gleichstellungsgebot in Art. 3 Abs. 2 GG und zum Diskriminierungsverbot des weiblichen Geschlechts. Dieses zu lösen ist Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers.

Der Umgang in der Praxis

Tatsächlich ist Vorsicht geboten bei der Änderung des Verfahrens rund um die Minderheitenquote. Denn ein Verstoß gegen die Bestimmungen über die Verteilung des Betriebsratssitze kann zur Anfechtung der Wahl nach § 19 BetrVG führen, wenn das Wahlergebnis beeinflusst wurde und eine Berichtigung nicht möglich ist. Um keine Anfechtung der Wahl zu riskieren, empfiehlt es sich nicht, das dritte Geschlecht schlichtweg zu ignorieren. Betriebe sollten vielmehr das dritte Geschlecht entsprechend dem zahlenmäßigen Verhältnis berücksichtigen. Dadurch ist eine Diskriminierung bzw. Benachteiligung des dritten Geschlechts ausgeschlossen. Ohne gesetzliche Grundlage sollte nach hiesiger Auffassung jedoch keine Kumulation des Minderheitengeschlechts erfolgen.

Beispiel: In einem Betrieb mit 150 Arbeitnehmern ist ein 7-köpfiger Betriebsrat zu wählen. Im Betrieb sind 90 Männer und 50 Frauen und 10 diverse Personen beschäftigt.

90 Männer Höchstzahl 50 Frauen Höchstzahl 10 diverse Personen Höchstzahl
:1 90 :1 50 :1 10
:2 45 :2 25 :2 5
:3 30 :3 16,7 :3 3
:4 22,5 :4 12,5 :4 2,5

Die Männer im Betrieb bekämen somit vier Sitze im Betriebsrat, die Frauen drei. Das dritte Geschlecht findet mangels ausreichender Belegschaftszahl keine Berücksichtigung als Minderheitengeschlecht und damit keinen Mindestsitz im Betriebsrat.

Fazit

Die Anerkennung des dritten Geschlechts im Betrieb und die zahlenmäßige Berücksichtigung bei den Betriebsratswahlen birgt ein niedriges Risiko für Arbeitgeber, da sich die Berücksichtigung nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit auf das Wahlergebnis auswirken wird. Trotzdem soll und muss aus rechtlichen, aber auch als Zeichen für mehr Inklusion und Offenheit im Betrieb eine Berücksichtigung des dritten Geschlechts bei den Betriebsratswahlen erfolgen. Auf welche Weise dies geschieht, ist Aufgabe des Gesetzgebers. Es liegt an ihm, § 15 Abs. 2 BetrVG entsprechend zu ändern, um dem dritten Geschlecht über die zahlenmäßige Berücksichtigung im Betrieb hinaus, tatsächliche Sichtbarkeit im Betriebsrat zu verschaffen.

KLIEMT.Arbeitsrecht




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