Wird ein Arbeitnehmer aus verhaltensbedingten Gründen außerordentlich gekündigt, kann es durchaus vorkommen, dass nach Ausspruch der Kündigung weitere kündigungsrelevante Umstände bekannt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen können diese Sachverhalte im Kündigungsschutzverfahren nachgeschoben und so in die Prüfung der Wirksamkeit der Kündigung einbezogen werden. Welche Besonderheiten in dieser Hinsicht bei der Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer zu beachten sind, zeigt dieser Beitrag.
Wann können Kündigungsgründe überhaupt nachgeschoben werden?
Das Nachschieben von Kündigungsgründen ist grundsätzlich unter den folgenden Voraussetzungen möglich (lesen Sie hierzu auch diesen Beitrag):
- Die Gründe waren bei Ausspruch der Kündigung bereits entstanden.
- Der Kündigende hatte über diese Gründe keine Kenntnis.
- Das Nachschieben verändert den Charakter der Kündigung nicht völlig. (Hier ist im Einzelnen vieles streitig. Sollen etwa nach Ausspruch einer personenbedingten Kündigung verhaltensbedingte nachgeschoben werden, sollte in jedem Fall vorsorglich eine weitere Kündigung ausgesprochen werden.)
- Der Betriebsrat (sofern vorhanden) wurde zu den neuen Kündigungsgründen erneut angehört.
Gilt das auch bei Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer?
Abgesehen davon, dass die Schwerbehindertenvertretung (sofern eine solche besteht) zu den neuen Kündigungsgründen erneut anzuhören ist, ist zu beachten, dass die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedarf (§§ 168, 174 SGB IX).
Aber hat dieser Sonderkündigungsschutz zur Folge, dass das Integrationsamt über nachträglich bekannt gewordene Kündigungssachverhalte – ähnlich wie der Betriebsrat – informiert werden oder gar eine neue Zustimmung eingeholt werden muss, bevor die Kündigungsgründe im Kündigungsschutzverfahren nachgeschoben werden?
Nach der Rechtsprechung des BAG ist zu unterscheiden: Steht der Kündigungsgrund offensichtlich nicht im Zusammenhang mit der Behinderung des Arbeitnehmers, ist ein Nachschieben zulässig (BAG v. 19.12.1991 – 2 AZR 367/91). Stehen die neuen Kündigungsgründe indes im Zusammenhang mit der Behinderung oder stützt der Arbeitnehmer seine Kündigung auf einen völlig neuen Sachverhalt, so ist eine erneute Zustimmung des Integrationsamts erforderlich.
Achtung: Aktuelle Entscheidung des LAG Köln
Vorsicht ist nun anlässlich einer aktuellen Entscheidung des LAG Köln (Urt. v. 15.7.2020 – 3 Sa 736/19) geboten: Danach soll ein Nachschieben von Kündigungsgründen bei der Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer generell unzulässig sein.
Das LAG Köln stellt zur Begründung seiner Entscheidung einen Vergleich zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren an. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung stelle auf den Beurteilungszeitpunkt des Integrationsamts ab und schließe ein Nachschieben von Kündigungsgründen während des Verwaltungsrechtsstreits grundsätzlich aus. Aufgrund der gebotenen Trennung des verwaltungs- und arbeitsgerichtlichen Verfahrens dürfe für das arbeitsgerichtliche Verfahren nichts anderes gelten. Gründe, die das Integrationsamt im Zustimmungsverfahren nicht berücksichtigt, dürften nicht durch ein Nachschieben im Kündigungsschutzverfahren doch relevant werden.
Kritik an der Entscheidung des LAG Köln
Die Entscheidung des LAG Köln überzeugt nicht. Das SGB IX schreibt nicht zwingend vor, dass der Arbeitgeber dem Integrationsamt überhaupt Kündigungsgründe mitteilen muss. Das Integrationsamt hat den Sachverhalt vielmehr von Amts wegen aufzuklären und nach eigenem Ermessen über die beantragte Zustimmung zur Kündigung zu entscheiden. Entsprechend erzeugt nur die Entscheidung des Integrationsamt (d.h. die Zustimmung zur Kündigung) Bindungswirkung zwischen den Parteien, nicht aber die tatsächlichen Feststellungen und Gründe des Bescheids. Stehen die nachgeschobenen Kündigungsgründe offensichtlich nicht im Zusammenhang mit der Behinderung des Arbeitnehmers, so ist auch keine Beeinträchtigung der Rechte des schwerbehinderten Arbeitnehmers zu befürchten. Denn in einem solchen Fall soll das Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung ohnehin erteilen (§ 174 Abs. 4 SGB IX).
Keinesfalls überzeugend ist die Auffassung des LAG Köln, bei schwerbehinderten Arbeitnehmern sei das Nachschieben von Kündigungsgründen generell ausgeschlossen. Es sollte doch jedenfalls zulässig sein, die Kündigungsgründe nach Beteiligung des Integrationsamtes nachzuschieben.
Praxistipps
Auch wenn die Entscheidung des LAG Köln nicht überzeugt, bedeutet diese für den Arbeitgeber gleichwohl eine gewisse Rechtsunsicherheit. Werden nach Ausspruch einer Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers neue kündigungsrelevante Umstände bekannt, so sollte der Arbeitgeber das Integrationsamt beteiligen und die (erneute) Zustimmung beantragen, um ein Nachschieben der Kündigungsgründe im Kündigungsschutzprozess zu ermöglichen. Dies gilt (auch nach der Rechtsprechung des BAG) jedenfalls dann, wenn die Kündigungsgründe im Zusammenhang mit der Behinderung des Arbeitnehmers stehen.