Viele Arbeitgeber kennen diese Überraschung – der Arbeitnehmer soll gekündigt werden. Er war bei der letzten Wahl auf einen der hinteren Plätze gelangt. Im Rahmen der Anhörung des Betriebsrats erfährt der erstaunte Arbeitgeber, dass der Arbeitnehmer an einer Sitzung teilgenommen haben soll. Das scheint dem Arbeitgeber fernliegend, wenn es aus seiner Sicht ausreichend Ersatzmitglieder auf einem früheren Listenplatz gibt. Da drängt sich die Frage auf, ob hier alles seine Ordnung hat, gerade wenn der Arbeitnehmer geahnt haben muss, dass womöglich eine Kündigung auf ihn zukommt.
Nach Satz 1 von § 15 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) darf das (aktive) Betriebsratsmitglied nur aus wichtigem Grund und nur mit Zustimmung des Betriebsrats gekündigt werden. Nach dessen Satz 2 dürfen ehemalige Mitglieder des Betriebsrats für ein Jahr nach dem Ausscheiden aus dem Betriebsrat auch ohne Zustimmung des Betriebsrats, aber ebenfalls nur aus wichtigem Grund gekündigt werden. Dieser Schutz findet auch Anwendung auf Nachrücker, die im Rahmen der Betriebsratswahl nicht ausreichend Stimmen erhalten haben, um einen Stammplatz zu besetzen, die aber als Ersatzmitglieder zum Einsatz kommen, wenn eines oder mehrere der Stammmitglieder verhindert sind. Während ihres Einsatzes sind sie nach Satz 1 geschützt, danach für ein Jahr nach Satz 2.
Gelegentlich drängt sich nun der Zweifel auf, ob womöglich das Ersatzmitglied in den Genuss einer – falsch verstandenen – Solidarität mit den übrigen Betriebsratsmitgliedern gekommen ist, wenn ein Nachrücker von weit hinten auf der Liste an einer Betriebsratssitzung teilnimmt, etwa weil sich mehrere Stammmitglieder für den Sitzungstag kurzfristig krank gemeldet haben oder Urlaub beantragt haben. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich mehrfach mit solchen Konstellationen beschäftigt. Im Ergebnis lässt sich – aus Arbeitgebersicht leider – festhalten, dass die Anforderungen an den arbeitgeberseitigen Vortrag hier recht hoch sind.
In einer frühen Entscheidung aus dem Jahr 1986 (BAG, 5.9.1986 – 7 AZR 175/85) hatte das BAG einen Fall zu entscheiden, in welchem das zu vertretende Betriebsratsmitglied sich – wie sich sodann herausstellte – zu Unrecht krank gemeldet hatte. Das Gericht gewährte dem Ersatzmitglied dennoch den Schutz des § 15 Abs. 1 S. 1 Kündigungsschutzgesetz im Hinblick auf die am Tag seines Vertretungseinsatzes erklärte Kündigung. Dem Vorsitzenden sei es unmöglich, die Richtigkeit der Krankmeldung zu prüfen. Er sei daher berechtigt, das an 1. Stelle der Liste stehende Ersatzmitglied zu laden. Liege hingegen ein Fall eines kollusiven Zusammenwirkens der Betriebsratsmitglieder vor, so sei es dem Ersatzmitglied nach § 242 BGB verwehrt, sich auf den Kündigungsschutz des § 15 Abs. 1 S. 1 Kündigungsschutzgesetz zu berufen. Dafür, dass eine solche Kollusion vorliege, trage aber der Arbeitgeber die Beweislast (Rz. 27).
In einer Entscheidung vom 12.2.2004 – 2 AZR 163/03 hatte das BAG einen Fall zu entscheiden, in welchem der Arbeitgeber die Teilnahme des Nachrückers an einer Betriebsratssitzung als Urlaubsvertreter mit Nichtwissen bestritten hatte. Der Nachrücker war das 15. Mitglied der Liste für den 11köpfigen Betriebsrat. Hierzu entschied das BAG, der Nachrücker habe schon öfter an Sitzungen teilgenommen. Es sei Aufgabe des Arbeitgebers, hier ergänzend zu der behaupteten Kollusion vorzutragen.
Eine weitere Entscheidung des BAG zur Frage des zu Unrecht erlangten Kündigungsschutzes datiert vom 8.9.2011 (2 AZR 388/10). Hier war das Ersatzmitglied kurzfristig zur Urlaubsvertretung herangezogen worden, obwohl sich das zu vertretende Stammmitglied an seinem Wohnsitz befand. Es hatte kurzfristig zwei Tage Urlaub beantragt, um, so der Klägervortrag, zwei jeweils an den Vorabenden seiner Urlaubstage stattfindende Fußballspiele anzusehen. Hier wies das BAG erneut darauf hin, im Falle einer Kollusion sei es dem Ersatzmitglied verwehrt, sich auf den Schutz des § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG zu berufen (Rz. 50 ff.). Das sei hier aber trotz des sehr kurzfristig beantragten Urlaubs nicht ersichtlich.
Schließlich hatte das BAG am 27.9.2012 (2 AZR 955/17) den Fall eines Ersatzmitglieds zu entscheiden, der argumentierte, bei Zugang der Kündigung an einem Samstag das Stammmitglied vertreten zu haben. Das Stammmitglied war bereits an jenem – für ihn arbeitsfreien – Samstag zulässigerweise in den Urlaub gefahren, auch wenn sein erster vom Arbeitgeber gewährter Urlaubstag der darauffolgende Montag war. Hier gewährte das BAG nur den nachwirkenden Schutz nach Satz 2 von § 15 Abs. 1 KSchG aus einem früheren Vertretungseinsatz, nicht den nach Satz 1 für das aktive Betriebsratsmitglied. In der Begründung führte das BAG u.a. (Rz. 24) aus, ein Missbrauchsfall sei bei dem Kläger, der an erster Stelle der Ersatzmitglieder stand, nicht ersichtlich.
Zusammenfassend lässt sich diesen Entscheidungen entnehmen, dass die Hürden für den Arbeitgeber hoch liegen. Dennoch lassen sich den Entscheidungen einige Kriterien entnehmen, die das BAG jeweils kritisch zu Lasten des Betriebsratsmitglieds gewürdigt hat:
- Ein Einsatz eines weit hinten in der Liste befindlichen Mitglieds (im Umkehrschluss zu den Entscheidungen vom 5.9.1986 und vom 27.09.2012, wo die Stellung als erstes Ersatzmitglied jeweils zugunsten der Kläger gewürdigt wurde)
- Der erstmalige Einsatz als Ersatzmitglied (im Umkehrschluss zur Entscheidung vom 12.2.2004, in welcher die wiederholte Sitzungsteilnahme Erwähnung fand)
- Das Stattfinden der fraglichen Sitzung außerhalb des regelmäßigen Sitzungstages (so erneut im Umkehrschluss zur Entscheidung vom 12.2.2004)
- Die Kurzfristigkeit einer Vertretung (so kritisch gewürdigt in der Entscheidung vom 8.9.2011)
- Generell der enge zeitliche Zusammenhang mit einer bevorstehenden oder zu erwartenden Kündigung