In unserem letzten Beitrag zur Anrechenbarkeit von Anwesenheitsprämien auf den Mindestlohn haben wir drei landesarbeitsgerichtliche Urteile vorgestellt, die sich mit unterschiedlichen Ergebnissen mit dieser Fragestellung auseinandersetzten. In allen drei Verfahren wurde das BAG zur Entscheidung angerufen. Nun liegt das erste Urteil des BAG zu dieser Frage vor (BAG, Urteil vom 11.10.2017 – 5 AZR 621/16).
Was war passiert?
Das BAG entschied über den Fall, den vorhergehend das LAG Bremen (Urteil vom 10.08.2016 – 3 Sa 8/16) entschieden hatte und hob das Urteil des LAG Bremen auf.
Die Arbeitnehmerin erhielt bis zum Dezember 2014 einen Stundenlohn von EUR 6,36 brutto sowie eine Anwesenheitsprämie. Die Anwesenheitsprämie war durch eine Gesamtzusage gewährt worden und betrug 100 DM im Monat. Sie wurde bei 1-3 Krankheitstagen auf 25 DM reduziert und entfiel bei mehr als 3 Krankheitstagen. Später wurde diese Regelung in eine Betriebsvereinbarung übernommen.
Im Oktober schlossen die Parteien einen Nachtrag zum Arbeitsvertrag, in dem es u.a. hieß:
„Die Vergütung beträgt bis zum 31.12.2014 EUR 6,26 brutto pro Zeitstunde. Ab dem 01.01.2015 beträgt die Vergütung in Anlehnung an das Mindestlohngesetz EUR 8,50 brutto pro Zeitstunde. Sollte sich der Mindestlohn je Zeitstunde per Gesetz erhöhen, so bedarf es keinem Nachtrag und ersetzt automatischen den Vorherigen.“
Eine Regelung zur Anwesenheitsprämie fand sich im Nachtrag nicht. Seit Februar 2015 rechnete die Arbeitgeberin die Anwesenheitsprämie bis zur Erreichung des Mindestlohns im Rahmen des Pauschallohns ab. Den darüber hinausgehenden Betrag der Anwesenheitsprämie zahlte sie bei entsprechender Anwesenheit aus.
Entscheidung des LAG Bremen
Das LAG Bremen entschied, dass die Anwesenheitsprämien auf den gesetzlichen Mindestlohn anrechenbar seien. Hierbei beschäftigte sich das Gericht ausführlich und fast ausschließlich mit der Frage, ob die Anwesenheitsprämie ihrem Zweck entsprechend auf den Mindestlohnanspruch anrechenbar ist. Dies ist der Fall, wenn es der Zweck der Sonderleistung ist, die vom Arbeitnehmer geleistete oder zu leistende Arbeit zu vergüten, die durch den gesetzlichen Mindestlohn abgegolten sein soll (vgl. die Einzelheiten im letzten Beitrag hierzu).
Das LAG Bremen kam zu der Einschätzung, dass eine funktionale Gleichwertigkeit bestünde, denn der Anspruch auf die Anwesenheitsprämie sei einzig von der normalen Arbeitsleistung des Arbeitnehmers abhängig. Dem widersprach das LAG Sachsen-Anhalt in seinem Urteil vom 23.08.2016 (2 Sa 109/16). Es ging davon aus, dass mehr als die Normalleistung vom Arbeitnehmer verlangt würde, wenn die Anwesenheitsprämie auch entfiele, wenn der Arbeitnehmer „objektiv“ und nicht nur „leichtfertig“ erkrankt sei und daher keiner Arbeitspflicht unterliegt (vgl. die Einzelheiten im letzten Beitrag hierzu).
Entscheidung des BAG
Das BAG befasste sich mit dieser zwischen den Landesarbeitsgerichten umstrittenen Frage nur sehr knapp. Es ging zwar davon aus, dass eine Anwesenheitsprämie wie die streitgegenständliche auf den Mindestlohn angerechnet werden könne, da sie dafür gezahlt werde, dass der Arbeitnehmer Arbeitsleistungen erbringe. Eine Unterscheidung anhand der Schwere der Erkrankung bzw. dem Vorliegen einer „objektiven Erkrankung“ nahm das BAG nicht vor.
Es lehnte die Anrechenbarkeit der Anwesenheitsprämie im konkreten Fall dennoch ab. Die Anrechenbarkeit von Sonderzahlungen setze nämlich voraus, dass die vertraglich vereinbarte Grundvergütung nicht ausreiche, um den gesetzlichen Mindestlohn zu erfüllen. Im vorliegenden Fall erfüllte der im Nachtrag zum Arbeitsvertrag vereinbarte Stundenlohn von EUR 8,50 brutto jedoch den Mindestlohnanspruch und eine Anrechnung scheide dementsprechend aus. Des Weiteren sei auch eine Verrechnung der Anwesenheitsprämie nicht möglich, da diese als selbstständiger Entgeltbestandteil geschuldet sei und weder ausdrücklich noch konkludent vereinbart worden sei, dass diese mit dem Grundlohn verrechnet würde. Der Nachtrag zum Arbeitsvertrag sei so auszulegen, dass der arbeitsvertragliche Bruttostundenlohn auf das jeweilige „gesetzliche Niveau“ anhebt, außerhalb der Klausel angesiedelte Leistungen, aber unverändert weitergewährt würden. Für eine andere Auslegung wäre es erforderlich gewesen, im Nachtrag zum Arbeitsvertrag klarzustellen, dass die Erhöhung des vertraglichen Stundenlohns mit einer Verrechnung der Anwesenheitsprämie einhergeht.
Fazit
Das BAG hat zum ersten Mal zu der zwischen den Landesarbeitsgerichten umstrittenen Frage Stellung genommen und sich mit seinen knappen Ausführungen auf die Seite des LAG Bremen und des LAG Mecklenburg-Vorpommern gestellt. Eine ausführliche Erörterung blieb allerdings aus. Dies ist insofern folgerichtig, als die Frage für das BAG nicht streitentscheidend war, da die Anrechnung und die Verrechnung nach der Auffassung des BAG aus anderen Gründen ausschieden. Weitere Erläuterungen wären angesichts der abweichenden landesgerichtlichen Entscheidungen allerdings dennoch wünschenswert gewesen. Es ist zu erwarten, dass das BAG sich in seiner noch ausstehenden Entscheidung zum Urteil des LAG Sachsen-Anhalt genauer mit dieser Frage auseinandersetzen wird.
Unabhängig von dieser Streitfrage unterstreichen die Ausführungen des BAG erneut die Wichtigkeit, in Arbeitsverträgen transparente und eindeutige Regelungen zu treffen. Die für die Arbeitgeberin negative Entscheidung hätte durch die Ergänzung eines klarstellenden Satzes im Nachtrag zum Arbeitsvertrag vermieden werden können.