Die Digitalisierung treibt Innovationen – bei Produkten, Dienstleistungen und Arbeitsprozessen. Auch im Arbeitsrecht? Nur bedingt. Während zumindest die Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat (vorsichtig) der modernen Welt geöffnet wird, dürfte jedenfalls der Versuch, unter der aktuellen Rechtslage eine digitale Betriebsratswahl „forcieren“ zu wollen, gescheitert sein. Ein aktuelles Urteil des ArbG Hamburg zeigt die Risiken unter dem Status quo. Gleichzeitig machen Reformansätze des Gesetzgebers Hoffnung, dass hier – und in anderen Bereichen – die schon etwas angestaubten betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen nicht auf ewig bestehen bleiben werden.
Betriebsratswahl analog
Die aktuellen gesetzlichen Regelungen sehen eine Online-Wahl nicht vor. Vielmehr beschränkt sich der Gesetzgeber auf die Feststellung: „Die Stimmabgabe erfolgt durch Abgabe von Stimmzetteln in den hierfür bestimmten Umschlägen (Wahlumschlägen).“ (§ 11 Abs. 1 S. 2 WO). Die maximale Flexibilität, die das Gesetz zulässt, ist die einer Briefwahl für Ortsabwesende. Ein Gesetz aus einer anderen Zeit.
BetrVG und Wahlordnung: Wege aus der digitalen Steinzeit?
Der Versuch, Betriebsratswahlen auch digital möglich zu machen, ist kein ganz neuer. Schon im Jahr 2002 hatte nach Presseberichten die T-Systems den Versuch unternommen, den Wahlprozess zumindest teilweise zu digitalisieren. Über die letzten Jahre hat die Zahl an Anbietern zugenommen, die unter Verweis auf mehr oder weniger aussagekräftige Zertifizierungen und Gütesiegel versuchen, das – in der Praxis durchaus vorhandene – Interesse an digitalen Betriebsratswahlen in konkrete Aufträge umzumünzen. Und schließlich hat spätestens die vielbeachtete Initiative von Professor Dr. Thüsing et al. (Betriebs-Berater 2016, S. 2677 [€]) dafür gesorgt, dass die Diskussion um eine „Digitalreform“ des BetrVG in Wissenschaft und Praxis erneut befeuert worden ist.
Klar ist: Die Zulassung einer Online-Wahl verspricht – sofern das Verfahren sicher und nach allgemeinen Wahlgrundsätzen ausgestaltet ist – ausschließlich positive Effekte:
- Außendienstler und andere außerhalb der Hauptbetriebsstätte tätige Arbeitnehmer haben einen einfacheren Zugang zur Wahl. Jüngere Arbeitnehmer sind affiner für eine digitale Wahl. Insgesamt steigt die Wahlbeteiligung und die demokratische Legitimation der gewählten Betriebsräte.
- Die Wahl kann – da oftmals direkt vom Arbeitsplatz aus durchführbar und unmittelbar ohne zeitintensive Auszählung auswertbar – insgesamt beschleunigt werden; es werden Kosten für die Erstellung von Wahlunterlagen vermieden.
- Ein computergestütztes Wahlverfahren kann helfen, aus Unkenntnis geborene Verfahrensfehler sowie Fehler bei der Stimmauszählung u.Ä. zu vermeiden.
Just do it?
Vor diesem Hintergrund sind einige Arbeitgeber dazu übergegangen, in Abstimmung mit ihren Beschäftigten und Betriebsräten schlicht die Wahlen digital durchzuführen. Wo kein Kläger, da kein Richter: Dieser Ansatz kann funktionieren. Es bedarf aber nur einer verstimmten Partei, die bereit und berechtigt ist, Nichtigkeitsfeststellungsantrag vor Gericht zu stellen, um das gesamte Modell zu „kippen“.
Ein großes Risiko liegt hierbei insbesondere dort, wo nach dem Wahlergebnis nicht eine gewerkschaftlich gestützte Liste bei der Wahl erfolgreich abschneidet. Die zunehmende Bereitschaft der Gewerkschaften, Wahlergebnisse anzugreifen, sollte daher in jedem Fall in die Risikobewertung einfließen.
BetrVG 4.0 – Vor Gericht …
Das zeigt eine jüngere Entscheidung des ArbG Hamburg, welches eine „digital“ durchgeführte (Nach-) Wahl für nichtig erklärt hat (Beschluss vom 7. Juni 2017, 13 BV 13/16 – n.v. [Beschluss als PDF-Datei].
In dem maßgeblichen Fall war vom 11.-27. April 2016 eine Betriebsratswahl durchgeführt worden – und zwar neben der üblichen Präsenz- und Briefwahl zugleich in der Form einer Online-Wahl. Die wahlberechtigten Arbeitnehmer erhielten Zugangsdaten zu einem „virtuellen Stimmzettel“, was auch von einer Vielzahl der Beschäftigten genutzt wurde: 740 gültige (Brief- und Präsenzwahl-) Stimmen standen 628 Online-Stimmabgaben gegenüber. Bei der Auszählung der elektronischen Wahlurne wurden ausschließlich die Stimmenanzahl und Wahlergebnisse durch „An die Wand werfen“ bekannt gegeben.
Das ArbG Hamburg befand nüchtern: Die durchgeführte Wahl war nach ständiger Rechtsprechung des BAG nichtig, da sie nicht ausschließlich mittels in BetrVG und WO vorgesehener Wahlverfahren durchgeführt worden sei. Damit liege ein so grober, schwerwiegender und offensichtlicher Verstoß gegen wesentliche Grundsätze des gesetzlichen Wahlrechts vor, dass nicht einmal mehr der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl bestehe.
„Seit dem Inkrafttreten der jetzt gültigen Wahlordnung im Jahre 2001 hat sich die Lebenswirklichkeit nicht derart geändert, dass die Normen durch Auslegung angepasst werden müssten.“ (ArbG Hamburg)
Dies ergebe sich schon eindeutig aus einer Auslegung der in der Wahlordnung verwandten Begrifflichkeiten, wie etwa der „schriftlichen“ Stimmabgabe (Überschrift vor § 24 WO), dem Erfordernis eines „Wahlumschlags“ (§ 24 Abs. 1 Nr. 3, § 25 Nr. 1), „vorgedruckte Erklärung“ (§ 24 Abs. 1 Nr. 4), „größerer Freiumschlag mit Anschrift und Absender“ (§ 24 Abs. 1 Nr. 5), „Verschließen des Wahlumschlags“ (§ 25 Nr. 1 und Nr. 3) und „Öffnen des Umschlags“ (§ 26 Abs. 1), „Unterschrift“ (§ 25 Nr. 2), „Legen des Wahlumschlags in die Urne“ (§ 26 Abs. 1) und „Briefumschläge“ (§ 26 Abs. 2). Für eine darüber hinausgehende, extensive zeitgemäße Auslegung dahingehend, dass entgegen des eindeutigen Wortlautes auch Online-Wahlen von der Wahlordnung umfasst seien, sah das Gericht keinen Raum.
Hinsichtlich dieser Bewertung kann man nun sehr geteilter Auffassung sein. Ob die von dem ArbG vorgenommene Auslegung wirklich zwingend ist, nachdem schon der Begriff der „Schriftlichkeit“ im Rahmen des BetrVG nicht zwingend mit dem der „Schriftform“ im Sinne des BGB deckungsgleich sein muss (siehe beispielhaft BAG, Beschluss vom 11. Juni. 2002 – 1 ABR 43/01) sei dahingestellt: das praktische Risiko, dass eine Onlinewahl unter der derzeitigen Rechtslage erfolgreich angegriffen werden kann, illustriert die Entscheidung allemal.
… und auf hoher See
Der Gesetzgeber müsste hinsichtlich der digitalen Öffnung des BetrVG Handlungsbedarf sehen, scheint sich aber zumindest derzeit noch auf eine Beobachterrolle zu beschränken. Überall? Fast. Weitgehend unbemerkt ist als Teil des Gesetzes zur „Verbesserung der Leistungen bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (EM-Leistungsverbesserungsgesetz)“ auch eine – sachlich damit in keinem Zusammenhang stehende – Änderung des Europäischen Betriebsrätegesetzes (EBRG) beschlossen worden.
Der Anwendungsbereich dieser Neuregelung (in Kraft ab 10. Oktober 2017) darf durchaus als überschaubar bezeichnet werden: Er beschränkt sich auf Seeleute, die Besatzungsmitglieder von Seeschiffen und Mitglieder eines Europäischen Betriebsrats (EBR) beziehungsweise eines zu dessen Einrichtung eingesetzten Besonderen Verhandlungsgremiums sind. Für diese wird nunmehr mit dem neuen § 41a EBRG eine Regelung geschaffen, wonach sie an Gremiensitzungen auch mittels Informations- und Kommunikationstechnologie, z.B. Videokonferenzen, teilnehmen dürfen. Im Wortlaut heißt es dort:
§ 41a Besondere Regelungen für Besatzungsmitglieder von Seeschiffen
(1) Ist ein Mitglied des besonderen Verhandlungsgremiums, eines Europäischen Betriebsrats oder einer Arbeitnehmervertretung im Sinne des § 19 oder dessen Stellvertreter Besatzungsmitglied eines Seeschiffs, so sollen die Sitzungen so angesetzt werden, dass die Teilnahme des Besatzungsmitglieds erleichtert wird.
(2) Befindet sich ein Besatzungsmitglied auf See oder in einem Hafen, der sich in einem anderen Land als dem befindet, in dem die Reederei ihren Geschäftssitz hat, und kann deshalb nicht an einer Sitzung nach Absatz 1 teilnehmen, so kann eine Teilnahme an der Sitzung mittels neuer Informations- und Kommunikationstechnologien erfolgen, wenn
1. dies in der Geschäftsordnung des zuständigen Gremiums vorgesehen ist und
2. sichergestellt ist, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können.
Alles bleibt (noch!), wie es ist
Ein erster, zaghafter Schritt zur Öffnung der Betriebsverfassung für das Digitale? Euphorie ist noch nicht angebracht. Ungeachtet des praktischen Bedürfnisses einer zeitgemäßen Novellierung etwa im Bereich von Betriebsversammlungen, Betriebsratssitzungen und Betriebsratswahlen wird es der Praxis und Wissenschaft obliegen, weiterhin Druck auf den Gesetzgeber zu entfalten. Der immer fortschreitende technische Wandel wird früher oder später eine Digitalisierung der Betriebsverfassung erzwingen.