Auch, wenn im Vorfeld viele Bedenken laut geworden sind: Das Bundesverfassungsgericht hat am 11. Juli 2017 das vieldiskutierte Tarifeinheitsgesetz in wesentlichen Teilen für verfassungskonform erklärt. Nur in begrenzten Teilbereichen hat es den Gesetzgeber zur Nachbesserung aufgefordert. Wer hat durch die Entscheidung gewonnen, wer verloren – und was folgt daraus für die betriebliche Praxis? Wir ordnen die Entscheidung ein.
Tarifeinheit: Die (schier) unendliche Geschichte
Bis ins Jahr 2010 galt in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung ein eherner Grundsatz: In einem Betrieb eines Unternehmens darf nur ein Tarifvertrag zur Anwendung kommen. Wo in Ausnahmefällen zwei Tarifverträge Geltung beanspruchten, setzte sich nur denjenige durch, der kraft Sachnähe der speziellere Tarifvertrag war (Bundesarbeitsgericht [BAG] vom 20. März 1991 – 4 AZR 455/90).
Im Juli 2010 dann der Paukenschlag. Das BAG vollzog infolge einer zunehmend kritischen Diskussion dieser Rechtsprechung eine Kehrtwende: Ein Grundsatz der Tarifeinheit sei dem Tarifvertragsgesetz (in der damaligen Fassung) nicht zu entnehmen (BAG vom 7. Juli 2010 – 4 AZR 549/08). Vielmehr liege in der Verdrängung eines Tarifvertrages ohne gesetzliche Grundlage „nur kraft Rechtsprechung“ ein ungerechtfertigter Eingriff in die Koalitionsfreiheit der tarifschließenden Gewerkschaften sowie ihrer Mitglieder.
Unerreichte Beliebtheitswerte
Die Folge: das Erstarken zahlreicher Spartengewerkschaften und eine sehr ausgeprägt gelebte Tarifkonkurrenz: Lokomotivführer und Piloten, um nur einige zu nennen, bestimmten in den folgenden Jahren durch eigenständige Arbeitskampfmaßnahmen die öffentliche Diskussion und sorgten für wenig Verständnis bei den betroffenen Unternehmen und Reisenden. Es kann als Ironie der Geschichte bezeichnet werden, dass genau diese Aktivitäten den Gesetzgeber, mag er dies auch von sich weisen, auf den Plan riefen.
Neue Regelung – altbekannte Probleme
2015 sollte mit dem Tarifeinheitsgesetz die durch das BAG 2010 noch vermisste Rechtsgrundlage geschaffen werden. Die Neuregelung des § 4a Tarifvertragsgesetz (TVG) sah vor, dass im Falle kollidierender Tarifverträge der Tarifvertrag der tarifmächtigeren (mitgliederstärkeren) Gewerkschaft den schwächeren verdrängt, und gewährte der Minderheitsgewerkschaft nur einen Anspruch auf „Nachzeichnung“ des verdrängenden Tarifvertrages.
Gegen diese und andere Regelungen wandten sich mehrere Spartengewerkschaften, die Gewerkschaft ver.di sowie ein Gewerkschaftsmitglied. Sie machten im Wesentlichen unzulässige Beschränkungen ihrer grundgesetzlich geschützten Koalitionsfreiheit geltend. Insbesondere die Spartengewerkschaften sahen ihre Existenz massiv bedroht, auch wenn das neugeschaffene Gesetz bislang kaum zur Anwendung kam.
Orientierung aus Karlsruhe?
Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren verschiedene Anträge mit gleicher Stoßrichtung zurückgewiesen hatte, wurde die Entscheidung in der Hauptsache mit Spannung erwartet.
Das BVerfG (11. Juli 2017, 1 BvR 1571/15 u.a.) entschied: Im Wesentlichen ist das Tarifeinheitsgesetz verfassungskonform, wenn und soweit es durch die Fachgerichte verfassungskonform angewandt wird. Dies erfordere insbesondere im Bereich der Verdrängungsregeln eine sorgfältige Abwägung. Insoweit führte das Gericht aus (Rn. 187-188):
(…) [u]nvereinbar wäre (…) der Verlust langfristig angelegter, die Lebensplanung der Beschäftigten berührender Ansprüche aus dem Minderheitstarifvertrag durch dessen Verdrängung, ohne die Möglichkeit vergleichbare Leistungen im nachzeichnungsfähigen Mehrheitstarifvertrag zu erhalten. Das betrifft längerfristig bedeutsame Leistungen, auf die sich Beschäftigte in ihrer Lebensplanung typischerweise einstellen und auf deren Bestand sie berechtigterweise vertrauen. Der ersatzlose Verlust oder die substantielle Entwertung insoweit bereits erworbener Ansprüche oder Anwartschaften infolge einer Verdrängung des zugrundeliegenden Tarifvertrags würde unverhältnismäßig jedenfalls in die grundrechtlich geschützte Teilhabe am Tarifergebnis eingreifen. So läge eine unzumutbare Härte zum Beispiel vor, wenn eine tarifvertraglich vereinbarte, langfristig angelegte Leistung zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit, soweit sie bereits erworben ist, durch einen verdrängenden Tarifvertrag verloren ginge oder substantiell entwertet würde, der dafür überhaupt keine Regelung trifft.(…)
Da der Gesetzgeber in § 4a TVG keine Vorkehrungen getroffen habe, die sicherstellen, dass solche unzumutbaren Härten vermieden werden, müssten die zur Anwendung berufenen Gerichte von Verfassungs wegen sicherstellen, dass es zu diesen Härten nicht kommt.
Späte Satisfaktion?
Nur in einem Teilaspekt gab das BVerfG den Beschwerdeführern recht (Rn. 200, 204):
Die mit der Verdrängungswirkung (…) verbundenen Beeinträchtigungen sind (…) insoweit unverhältnismäßig, als die angegriffenen Regelungen keine Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft vorsehen. (…)
Der Gesetzgeber hat keine Vorkehrungen getroffen, die kleinere Berufsgruppen in einem Betrieb davor schützen, der Anwendung eines Tarifvertrags ausgesetzt zu werden, der unter Bedingungen ausgehandelt wurde, in denen ihre Interessen strukturell nicht zur Geltung kommen konnten. (…)
Dass auch für diese Arbeitnehmergruppe ein im Sinne der tarifvertraglichen Richtigkeitsvermutung angemessenes Gesamtergebnis ausgehandelt wäre, kann dann nicht mehr ohne Weiteres angenommen werden. Das Ziel des Gesetzgebers, einen fairen Ausgleich zu fördern, wird nicht erreicht, wenn einzelne Berufsgruppen übergangen würden. Eine Verdrängung des Tarifvertrags, den diese abgeschlossen haben, wäre dann mangels hinreichender Ausgleichsmöglichkeit bei der Nachzeichnung mit dem Schutz der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar.
Nachbesserung – und Modifikation in der Anwendung des TVG
Das BVerfG gab dem Gesetzgeber auf, insoweit bis zum 31. Dezember 2018 „nachzubessern“ und eine angemessene Berücksichtigung der Interessen der Spartengewerkschaften sicherzustellen. Ob und wie dies handwerklich sauber gelingt, wird man mit Interesse verfolgen können.
Bis zu einer Neuregelung gilt § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG mit der Maßgabe fort, dass ein Tarifvertrag von einem kollidierenden Tarifvertrag nur verdrängt werden kann, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.
Klare Gewinner: Die „großen“ Tarifvertragsparteien
Die Entscheidung hat allenthalben für große Erleichterung bei Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden, aber auch den „großen“ Gewerkschaften gesorgt: Der Mitgliederschwund der Gewerkschaften hin zu den als „effektiver“ empfundenen Spartengewerkschaften könnte gebremst werden; der Einfluss konkurrierender Kleingewerkschaften dürfte allgemein nachlassen.
Dort, wo die Tarifvertragsparteien zukünftig bereits „ernsthaft und wirksam“ die Interessen der Klientel berücksichtigen, die normalerweise durch eine Spartengewerkschaft vertreten werden, greift die Verdrängungswirkung – und zumindest insoweit ist auch für die Arbeitgeber ein Gewinn an Rechtssicherheit zu verzeichnen.
Kleiner Sieg mit potentiell großer Sprengkraft: Die Spartengewerkschaften
Auch die Spartengewerkschaften, sind sie auch größtenteils mit der Entscheidung unzufrieden, können aus ihr eine wesentliche Aussage ziehen: Getreu der angegebenen Regelungsintention des Gesetzgebers wird durch das Tarifeinheitsgesetz das Streikrecht nicht angetastet (Rn. 139f.):
Zwar mag der Schutz von Unternehmen und Öffentlichkeit vor zunehmendem Streikgeschehen ein Motiv des Gesetzgebers gewesen sein. Doch hat sich dieser bewusst gegen Vorschläge entschieden, Vorgaben für den Arbeitskampf zur Vermeidung untragbarer Auswirkungen auf Dritte zu regeln (…). Zwar nimmt die Begründung zum Gesetzentwurf auf den Arbeitskampf Bezug (…). Doch wirkt sich die Kollisionsregel des § 4a TVG nicht auf die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen aus. Auch das Streikrecht einer Gewerkschaft, die in allen Betrieben nur die kleinere Zahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern organisieren kann, bleibt unangetastet; das gilt selbst dann, wenn die Mehrheitsverhältnisse bereits bekannt sind.
Im Klartext heißt dies: Auch wenn eine Spartengesellschaft erheblich weniger Mitglieder aufweist, darf sie weiterhin für einen eigenen Tarifvertrag streiken – denn nur eine Gewerkschaft, die einen eigenen (verdrängten) Tarifvertrag hat, darf anschließend qua Nachzeichnungsrecht den Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft übernehmen.
Folgen für die Praxis
Was folgt nun aus dem Karlsruher Richterspruch? Zwei wesentliche Punkte lassen sich bereits erahnen.
1) Es ist nicht alles Gold, was glänzt
Das scheinbare „Mehr“ an Rechtssicherheit wird dadurch wieder in Frage gestellt, dass die Fachgerichte nunmehr in einem längeren Prozess werden austarieren müssen, wie der Verdrängungsgrundsatz unter Ansehung eines angemessenen Grundrechtsausgleiches in die Praxis umgesetzt werden kann. In gewisser Weise sind sie die hauptsächlichen „Verlierer“, denn auf sie wird insoweit eine erhebliche Mehrbelastung an Arbeit zukommen.
Ob sich die Diskussion insoweit mit einer eventuellen Neuregelung zu Ende 2018 erübrigt, bleibt abzuwarten. Auch zahlreiche weitere Fragen, etwa zur Feststellung gewerkschaftlicher Mehrheitsverhältnisse im Betrieb, sind nach wie vor offen.
2) Ein Ende der „Dauerstreiks“?
Ob die Spartengewerkschaften sich in ihre neue Rolle fügen werden, scheint auch alles andere als sicher. Es liegt nahe, dass die eine oder andere Gewerkschaft ihr Augenmerk nunmehr darauf legen wird, durch noch aggressiveres Auftreten und noch härtere Forderungen ihre Mitgliederzahlen weiter steigen zu lassen, um selbst den Status einer verdrängenden Mehrheitsgewerkschaft zu erlangen.
Auch hier ist in letzter Konsequenz der Gesetzgeber gefragt, die Minderheitenrechte adäquat zur Geltung zu bringen, um die Schärfe aus der Auseinandersetzung zu nehmen.