Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist in Deutschland seit Jahren rückläufig. Um dennoch nicht an Kampfkraft zu verlieren, greifen Gewerkschaften in letzter Zeit verstärkt auf neue (und nicht selten rechtswidrige) Arbeitskampfmethoden zurück. So hatte das Landesarbeitsgericht Mainz Ende August 2016 über eine „innovative“ Arbeitskampfmaßnahme der Gewerkschaft ver.di zu entscheiden, mit der ver.di bundesweit versuchte, eine nicht tarifgebundene Tochtergesellschaft des Online-Versandhändlers Amazon zu Verhandlungen über einen Anerkennungstarifvertrag zu zwingen. Die Gewerkschaft führte Streikmaßnahmen jeweils direkt auf dem Betriebsgelände durch. Im Fall des Landesarbeitsgerichts Mainz versuchten ein Streikleiter sowie 65 gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer, unmittelbar vor dem Eingangsbereich zu den Produktionsstätten weitere Mitarbeiter des Betriebes zur Streikteilnahme zu motivieren.
Verstoß gegen das Hausrecht des Arbeitgebers
Das Landesarbeitsgericht Mainz (LAG Mainz v. 31.8.2016, 4 Sa 512/15), wie auch die Vorinstanz hielten die Streikmaßnahmen auf dem Betriebsgelände für rechtswidrig. Der Arbeitgeber könne Streikmaßnahmen auf dem Betriebsgelände mit seinem verfassungsrechtlich geschützten Hausrecht abwehren. Die Koalitionsbetätigungsfreiheit der Gewerkschaft und ihrer Mitglieder stünde dem nicht entgegen. Denn dem Arbeitgeber könne nicht zugemutet werden, Gewerkschaften während des Arbeitskampfes durch Bereitstellung von Betriebsmitteln aktiv zu unterstützen.
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Mainz fügt sich nahtlos in die Rechtsprechungslinie des Bundesarbeitsgerichts ein, das in einer Entscheidung aus dem Jahre 2013 (BAG v. 15.10.2013, 1 ABR 31/12) eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Duldung eines Streikaufrufs über die dienstlichen E-Mail Adressen der Mitarbeiter ebenfalls mit der Begründung ablehnte, betriebliche Ressourcen dürften nicht für Arbeitskampfmaßnahmen genutzt werden. Dabei soll es nach zutreffender Auffassung des Landesarbeitsgerichts Mainz auch nicht auf die Intensität der Eigentumsbeeinträchtigung ankommen (kein Eindringen in Räumlichkeiten des Arbeitgebers). Entscheidend sei vielmehr, dass es dem Arbeitgeber unzumutbar sei, sein Eigentum für Arbeitskampfzwecke zur Verfügung stellen zu müssen.
Anderweitige Möglichkeiten zur Mobilisierung der Belegschaft
Unzutreffend ist demgegenüber die Ansicht des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg in einem parallelen Fall (LAG Berlin-Brandenburg, Pressemitteilung v. 30.3.2017; die Entscheidung liegt im Volltext noch nicht vor), dass sich aus den besonderen örtlichen Verhältnissen im Einzelfall ein Recht auf Zutritt zum Betriebsgelände zu Arbeitskampfzwecken ergeben könne. Richtigerweise setzt das aus dem Arbeitsvertrag folgende Recht auf Zutritt der Arbeitnehmer zum Betriebsgelände jedoch stets einen Arbeitswillen voraus, an dem es bei den streikenden Mitarbeitern fehlt. Damit ist ein Recht auf Zugang der streikenden Mitarbeiter zum Betrieb schon einfachgesetzlich ausgeschlossen. Auch eine Pflicht zur „grundrechtsfreundlichen“ Ausübung des Hausrechts, wie vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg angenommen, besteht für den Arbeitgeber nicht. Die Begründung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg, die Gewerkschaft könne mit den arbeitswilligen Mitarbeitern auf dem Betriebsgelände effektiver kommunizieren, überzeugt nicht. Denn zur Wahrnehmung ihres Freiheitsrechts war die Gewerkschaft auf den Zugang zum Betriebsgelände nicht angewiesen.
Insbesondere im Vorfeld, aber auch noch während des Arbeitskampfes, hätten sich der Gewerkschaft vielfältige andere Möglichkeiten geboten, Mitarbeiter zur Streikteilnahme zu mobilisieren. Gewerkschaftsangehörige Arbeitnehmer hätten während der Arbeitspausen ihre Kollegen im persönlichen Gespräch zur Streikteilnahme animieren bzw. während des Arbeitskampfes außerhalb des Betriebsgeländes privat kontaktieren können. Insofern war für die Gewerkschaft und ihre Mitglieder der Zugang zum Betriebsgelände zwar eine besonders effektive, jedoch keinesfalls die einzige Möglichkeit koalitionsspezifischer Betätigung. Das Grundrecht auf Koalitionsbetätigungsfreiheit hätte auch ohne Beeinträchtigung von Eigentumsrechten des Arbeitgebers wirkungsvoll ausgeübt werden können.
Revision anhängig
Sowohl gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Mainz, als auch gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg ist Revision anhängig. Vieles spricht dafür, dass das Bundesarbeitsgericht, in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung, die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Mainz bestätigen, den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg dagegen aufheben wird. Denn auch in der Fachliteratur ist man ganz überwiegend der Auffassung, es gäbe kein verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf Streik am Arbeitsplatz.
Weitere Grenzen des Streikrechts
Bereits geklärt ist dagegen in der Rechtsprechung, dass die Gewerkschaft den bestreikten Betrieb jedenfalls nicht durch Betriebsblockaden lahmlegen darf. Dies hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg jüngst noch einmal bestätigt (LAG Berlin-Brandenburg v. 15.6.2016, 23 SaGa 968/18).
Streikposten dürfen arbeitswillige Mitarbeiter, weder körperlich noch verbal am Betreten und Verlassen des Betriebes hindern. Auch dürfen sie die betrieblichen Abläufe nicht stören (etwa durch Versperren von Zugängen zum Betrieb). Menschenmauern sowie Personenkontrollen vor dem Betrieb sind nicht durch das Streikrecht gedeckt. Streikposten und Streikende müssen sich so positionieren, dass Lieferanten, Kunden und Besucher des Betriebes ein ungehinderter Zugang zum Betrieb möglich bleibt. Gewerkschaften sind verpflichtet, das Verhalten ihrer Mitglieder zu beobachten und bei Verstößen entsprechende Maßnahmen gegen ihre Mitglieder und insbesondere gegen die örtliche Streikleitung zu ergreifen.
Praxisempfehlung
Arbeitgeber, die sich im Arbeitskampf befinden, sollten Verstöße der Gewerkschaft gegen das Hausrecht sorgfältig dokumentieren, um Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Zunächst sollte die örtliche Streikleitung benachrichtigt werden. Daneben sollten aber auch arbeitsrechtliche Sanktionen gegen die streikenden Mitarbeiter geprüft werden.
Sofern die Gewerkschaft die Ausschreitungen nicht verhindert, kann der Arbeitgeber beim Arbeitsgericht auch einen Antrag auf einstweilige Verfügung stellen. Die Chancen hierfür stehen gut. Denn in der Regel entscheiden Arbeitsgerichte bei einer Beeinträchtigung des Hausrechts durch gewerkschaftliche Streikmaßnahmen zugunsten des Arbeitgebers.
Mehr zur Reichweite des Streikrechts, insbesondere zu Betriebsblockaden bei Streiks finden Sie im Beitrag von Till Hoffmann-Remy vom 30. Juni 2016, Keine Betriebsblockaden bei Streiks.