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Arbeitszeit

Nach „Tyco“: Wegezeit als Arbeitszeit?

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Wegezeit als Arbeitszeit

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat vor gut einem Jahr mit Urteil vom 10.9.2015 – C-266/14 („Tyco“) eine auf den ersten Blick wegweisende Entscheidung gefällt. Dort hatte ein Unternehmen, das überregional Wartung und Reparatur von Einbruchsicherheitssystemen anbot, seinen technischen Service umstrukturiert.

Statt wie bisher die landesweite Betreuung der Kunden durch ein Filialnetz zu gewährleisten, wurden die Techniker mit dem voll ausgestatteten Dienstwagen direkt von zu Hause zum Kunden geschickt und fuhren vom letzten Kunden wieder nach Hause. Der EuGH meinte dazu: Fahrtzeit von zu Hause zum Kunden und zurück ist für eingesetzte Techniker (arbeitsschutzrechtlich) Arbeitszeit, die ggf. nach nationalen Regelungen vergütungspflichtig ist. Bedeutet das aber nun allgemein, dass Wegezeit als Arbeitszeit definiert werden muss?

Nach Art. 2 Nr. 1 der EG-Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) ist Arbeitszeit

jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt.

Bisher passte dieser Begriff und seine Auslegung durch den EuGH zu der Rechtsprechung des BAG, wonach Wegezeit grundsätzlich keine Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes darstellte. In Folge dessen war sie auch nicht vergütungsrechtlich beachtlich.

Neubewertung von Wegezeiten?

Muss die Wegezeit nun neu bewertet werden, jedenfalls für die Fälle, in denen eine dauerhafte Betriebsstätte fehlt? So war jedenfalls der Grundtenor in vielen Medien kurz nach Bekanntwerden der Entscheidung.

Das könnte weitreichende Konsequenzen haben, was den Personalbedarf der Unternehmen angeht. Wegen der zwingenden Grenzen des öffentlichen Arbeitszeitrechts könnte z.B. ein Country Manager dann nicht mehr fünf Tage á acht Stunden in wechselnden Filialen eingesetzt werden. Für ihn verbliebe nur noch die Zeitdauer, die von der Fahrt noch übrig bleibt. In ländlichen Gebieten oder bei großen Zuständigkeitsbereichen müsste dann der Radius des Mitarbeiters stark eingeschränkt werden, will man ihn noch sinnvoll einsetzen können. Alternativ müsste die Zeit um die Anfahrt gekürzt werden, die er in der Filiale oder beim Kunden eingesetzt werden kann.

Werden daher Umstrukturierungen ganzer Geschäftsmodelle notwendig? Im Ernstfall reicht dies bis hin zur vollständigen Trennung vom „reisenden Personal“, weil Neueinstellungen nicht mehr wirtschaftlich wären. Hat das der EuGH gewollt, folgt aus dem Urteil „Tyco“ mithin eine Neuordnung des bisherigen Arbeitszeitrechts (seit BAG vom 8.12.1960, 5 AZR 304/58)? Ist die bisherige Ausnahme für Außendienstler, bei denen die gesamte Tätigkeit auf den Kundenbesuch hin ausgerichtet ist (BAG vom 22.4.2009, 5 AZR 292/08), nun immer dann die Regel, wenn eine dauerhafte Betriebsstätte fehlt?


Abgrenzung im Einzelnen

Bei näherer Betrachtung von „Tyco“ wird deutlich: Das Urteil des EuGH bedeutet für das nationale Arbeitszeitrecht keine Revolution. Es erfordert aber eine erhöhte Aufmerksamkeit für Details. Der Fall Tyco betraf einen Grenzbereich, bei dem das Pendel letztlich deshalb in Richtung „Arbeitszeit“ ausschlug, weil die Mitarbeiter auf dem Weg zum Kunden mit Werkzeug ausgestattete Fahrzeuge benutzten, stets erreichbar waren, und sie noch auf der Fahrt jederzeit mit neuen Instruktionen rechnen mussten. Ihnen konnte statt der bisherigen Planung auch ein neues Fahrziel zugewiesen werden. Die Fahrt war also nicht nur fremdnützig (also Arbeit), sondern vor allem fremdbestimmt (also Arbeitszeit).

Die Techniker arbeiteten bereits auf der Fahrt, nur eben im Auto statt in der Werkstatt oder beim Kunden. Dem EuGH wurde die Entscheidung auch dadurch leicht gemacht, dass er einen direkten Vorher-Nachher-Vergleich anstellen konnte. Durch den Wegfall der Regionalbüros hatte sich letztlich an der Arbeit der Techniker nichts geändert, oder, anders formuliert: Ihr Home Office war an Stelle der Regionalbüros getreten. Ganz anders ist und bleibt das in den Konstellationen, in denen sich Mitarbeiter morgens nicht auf den Weg zu ihrem festen Schreibtisch im Büro machen, sondern etwa zu einer täglich wechselnden Filiale, in der sie ihre vertraglich geschuldete Tätigkeit verrichten.

Bei diesen Mitarbeitern bleibt es beim bisherigen Regelfall, dass die Anfahrt zum Arbeitsplatz Wegezeit und damit keine Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes ist – und damit vorbehaltlich anderer Vereinbarung nach deutschen Gepflogenheiten und Rechtsvorschriften auch nicht vergütungspflichtig. Das gilt insbesondere und vor allem dann, wenn sie mit dem eigenen Fahrzeug oder einem selbst gewählten Verkehrsmittel anreisen.

Kontrollüberlegung

Die praktische Kontrollfrage – aus der Perspektive des Mitarbeiters – lautet: Unterliege ich auf der Fahrt den Weisungen des Unternehmens? Muss ich mich für den Kaffee an der Tankstelle, Umwege zur Erledigung von Einkäufen oder für Privattelefonate auf dem Weg rechtfertigen, bis hin zu Abmahnung oder Kündigung wegen Arbeitszeitbetrugs? Das wird in vielen Fällen die Gleichbehandlung mit anderen Berufspendlern nahe legen, die morgens im Auto oder Zug (im Rahmen der Möglichkeiten einer Reise) tun und lassen können, was sie wollen und deren Fahrt zur Arbeit deshalb nach wie vor keine Arbeitszeit ist.

Der EuGH hat sich stark an den Umständen des Einzelfalls orientiert. Er hat entscheidend auf das voll ausgestattete Fahrzeug und die „Fernsteuerung“ der Techniker durch das Unternehmen abgestellt. Die Wertung sähe wohl anders aus, würden die Techniker auf der Fahrt nicht „umgelenkt“, bekämen die Reiseroute also schon weit im Voraus, führen mit dem auch privat genutzten Fahrzeug und könnten die Fahrt analog der Fahrt zum Betrieb frei gestalten.

Wie es zu bewerten wäre, wenn der Arbeitnehmer zwar Arbeitsmittel (Laptop) und Route (Kunden) durch den Arbeitgeber vorgegeben bekäme, sich die Route und das Verkehrsmittel aber selbst aussuchen könnte, hat der EuGH freilich nicht entschieden – weshalb die Arbeit auf dem Weg arbeitszeitrechtlich ein Risiko bleibt.

Auswirkungen auf die Praxis und Gestaltungsräume

Wenn „Tyco“ auch keine Neujustierung des Arbeitszeitbegriffs bedeutet, rückt es das Thema „Wegezeit“ doch spürbar in den Fokus der Aufmerksamkeit von Behörden und Betriebsräten.

Um Überraschungen zu vermeiden, sollte eine kritische Prüfung der Intensität der Einflussnahme auf reisende Mitarbeiter vorgenommen werden – und im Zweifel nachweislich auf Einflussnahme verzichtet werden.

Ist das nicht möglich, sollte den Tatsachen ins Auge geblickt werden und die bestmögliche Konsequenz gesucht werden, ob das die Einstellung weiterer Mitarbeiter ist, die Eröffnung von Regionalbüros, die Reduzierung reisender Tätigkeit oder der Abbau reisenden Personals. Dabei mag auch ein Blick auf die technischen Möglichkeiten im Zeitalter der „Arbeit 4.0“ sinnvoll sein, um entweder arbeitszeitkritische Wegezeiten zu reduzieren oder aber unterwegs verbrachte Arbeitszeiten möglichst effektiv zu nutzen.

KLIEMT.Arbeitsrecht




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